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Sammelband zur serbischen Perspektive auf den "Großen Krieg"

 

Der Sammelband „Veliki rat – Der große Krieg“, den die Slawistin Gordana Ilić Marković 2014 im Verlag Promedia herausgab, bietet eine umfangreiche und dichte Bestandsaufnahme, die als bislang einzigartig gelten muss. An vergleichbare Zusammenstellungen von journalistischen und literarischen Texten, die auf die serbische Erfahrung des Krieges fokussieren, mangelte es bisher auf Deutsch. Für die Anthologie wurden die meisten der abgedruckten Texte erstmals ins Deutsche übersetzt.

Die Herausgeberin Gordana Ilić Marković (c) Danilo Wimmer
Die Herausgeberin Gordana Ilić Marković (c) Danilo Wimmer

Den Auszügen gehen drei längere einleitende wissenschaftliche Artikel voran, außerdem werden die versammelten historischen Dokumente, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe oder literarischen Texte zumeist kurz kommmentiert, teilweise durch Fußnoten ergänzt, und durch eine am Ende des Buches beigefügte Zeittafel kontextualisiert. Es gibt auch beeindruckendes Bildmaterial: Fotos, Postkarten, Todesanzeigen und Karikaturen. Die Übersetzungen wurden von Mascha, Jelena und Antonija Dabić sowie von Richard Schuberth oder der Herausgeberin angefertigt. Elena Messner hat Gordana Ilić Marković zum Gespräch gebeten.

 

Dieser Zusammenstellung muss eine langjährige Recherchearbeit vorangegangen sein – wie kann man sich die Arbeit am Buch vorstellen und welche Probleme sind dabei aufgetaucht?

 

Die Recherche dauerte zwei Jahre. Immer neue Felder wurden erschlossen. Geforscht habe ich dafür in den Bibliotheken und Archiven Österreichs und Serbiens. Ich machte auch wiederholt Feldforschung in diesen Ländern, da sich immer noch viele Archivalien, etwa Briefe, Fotos und Tagebücher, im Privatbesitz der Nachkommenschaft befanden. Ich habe ein umfangreiches Textkorpus gesammelt, das bei weitem nicht vollständig in diesem Buch Platz gefunden hat. Dazu gab es auch andere Zeugnisse aus der Zeit, Dokumente, Fotos, Karikaturen, Briefe etc. Daraus musste eine Auswahl für eine Leserschaft, der diese Literaten und auch die Geschichte des Ersten Weltkrieges in Serbien unbekannt sind, getroffen werden. Ich orientierte mich bei der Auswahl an den literarischen Motiven und historischen Ereignissen. Am schwierigsten war es, diese Fülle an Materialien einer definitiven Auswahl zu unterziehen, um diese dem Umfang des Buches anzupassen und einem Lesepublikum, welches dem Thema zum ersten Mal begegnet, nicht mit unnötigen Fakten zu belasten, aber dennoch ausreichend über den gesellschaftlichen und historischen Hintergrund der Texte zu informieren.

Wie die kurzen biographischen Angaben zeigen, stammen alle in diesem Band versammelten Texte von Autoren und Autorinnen, die direkt vom Krieg in Serbien betroffen waren, sei es auf dem Kriegsfeld auf Seiten der serbischen Armee, in Gefangenschaft, im Exil oder im besetzten Serbien. Als Ausnahmen werden nur einigen Passagen von Miloš Crnjanski und Dušan Vasiljev präsentiert. Nach welchen Kriterien wurden die Beiträge für das Buch ausgewählt?
 

Alles begann eigentlich mit einer geplanten Arbeit über die Sprache der Propaganda, wobei ich dafür die Kriegspropaganda aus Österreich-Ungarn und Serbien im Ersten Weltkrieg der Analyse unterziehen wollte. Da mir nicht nur die Presse, sondern auch die im Krieg geschriebene Literatur für das Thema bedeutend erschienen, war ein Ziel der Recherche auch, zu eruieren, welche dieser serbischen literarischen Werke es in deutscher Übersetzung gab. Es stellte sich bald heraus, dass der „serbischer“ Blick auf den Ersten Weltkrieg fast ausschließlich über die Werke von Miloš Crnjanski definiert wurde, einem serbischen Schriftsteller, der aus Österreich-Ungarn stammt und im Krieg als Soldat der k. u. k. Armee diente. Das ist eine wichtige Perspektive. Dennoch musste ich leider festzustellen, dass es Übersetzungen der Werke von aus Serbien stammenden Literaten, die den Krieg als serbische Soldaten, Gefangene oder im Exil Wirkende verbrachten, nicht gab. In diesem Buch sind somit das erste Mal ihre Werke, ihre Tagebucheintragungen, ihre Notizen dem deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht – eine ganz andere Perspektive. Da es zudem in deutscher Sprache auch keine Darstellung des vierjährigen Krieges in Serbien aus kulturwissenschaftlicher Sicht gab, und weil Serbien im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg vorrangig in Verbindung mit dem Attentat präsentiert wurde, habe ich das in meinem einleitenden Artikel und in den Fußnoten in kurzer Form dargeboten.

 

Buchcover der deutschsprachige Ausgabe
Buchcover der deutschsprachige Ausgabe

Die literarischen Texte sind stilistisch und gattungstechnisch sehr unterschiedlich – von realistischen bis hin zu avantgardistischen Schreibweisen ist hier vieles zu finden.  Kann man rückblickend bei dieser Weltkriegsliteratur von einer dominaten Strömung sprechen oder ist gerade die ästhetische Vielfalt eines ihrer wichtigen Merkmale?

 

Erwartungsgemäß dominieren kurze Formen, dabei Prosa und nicht Gedichte. Einiges wurde noch während des Krieges in den Zeitungen veröffentlicht. Es wurde sehr wenig in Buchform gedruckt, weil Serbien eben vom ersten Kriegstag an Frontgebiet war und im Herbst 1915 okkupiert wurde. Serbische Literaten befanden sich an der Front, sowohl als Soldaten als auch als Zivilisten.  Für mehr gab es keine Zeit und Gelegenheit. Erzählungen, Romane und Theaterstücke schrieben diese Literaten erst in den Jahren nach dem Krieg, sie nutzten ihre Tagebücher und Notizen als Vorlagen. Das war die Zeit einiger bedeutender serbischer Avantgardisten. Sie setzen das Schreiben in ihrem Stil fort. Dennoch ist die realistische Schreibweise bzw. der immer wiederkehrende realistische Stil insbesondere in den Werken, die an der Front entstanden, sehr präsent.

 

Was könnte man als die relevantesten Themen dieser Texte festmachen?

 

Die historischen Ereignisse und die Situation, in dem sich das Land in diesen vier Jahren befunden hatte, diktierten die Themen. Das war für mich auch der Grund, im Buch eine chronologische Struktur zu entwickeln. Dabei achtete ich darauf, dass die Auswahl innerhalb dieser Kapitel verwandte Motive, die miteinander kommunizieren sollen, beinhaltet. So kommt das sehr präsente Motiv der in Mitleidenschaft gezogenen Zivilisten, darunter Kinder, Frauen und alte Männer sowie die verübten Kriegsverbrechen oder das Sterben an der Typhusepidemie in den Kapiteln zum Kriegsanfang, Flucht, Okkupationszeit und Kriegsgefangenschaft vor. Der im Krieg verstorbene serbische Dichter Milutin Bojić betitelte seinen 1917 in Thessaloniki vor seinem Tod veröffentlichten Gedichtband „Gedichte des Leiden und Stolzes“. Ich könnte keine bessere Zusammenfassung der serbischen Literatur im Ersten Weltkrieg finden.

 

Naturgemäß ist die überwiegende Zahl der Beiträge von Männern verfasst – Politiker, Künstler, Literaten, Soldaten und Offiziere usw. kommen zu Wort. Es wurden aber erfreulicherweise auch einige relevante Beiträge von Frauen in den Band aufgenommen.

 

Es sind tatsächlich selten die Werke von Frauen, die sich mit dem Kriegsthema befassen. Dass das gerade in der serbischen Literatur und Kunst der Fall war, ist kein Wunder. Wie gesagt, Serbien war im ersten Kriegsjahr an der Front, danach war es okkupiert. Somit war die gesamte Bevölkerung unmittelbar vom Krieg betroffen. Die Frauen engagierten sich als Krankenpflegerinnen, sie kämpften sogar als Soldatinnen mit, sie arbeiteten auch, soweit es möglich war, weiter als Lehrerinnen oder Ärztinnen. Somit sind nur die Werke der Bildungselite vorhanden, das ist bei den Männern häufig der Fall. Das letzte Bild der bedeutenden Malerin Nadežda Petrović habe ich als Titelbild des Buches verwendet. Es entstand 1915 kurz vor ihrem Tod im Kriegsspital von Valjevo, wo sie als Krankenpflegerin engagiert war. Sie war zudem eine der bedeutendsten Figuren der Frauenbewegung im Serbien der Vorkriegszeit. Im Buch sind auch kurze Auszüge aus ihren Briefen an die Familie veröffentlicht, die sie geschrieben hat, während sie als Sanitäterin an der Front war. Dazu die Tagebucheintragungen der Ärztin Slavka Mihajlović, die den gesamten Krieg in Belgrad verbrachte. Auch ein Essay von Isidora Sekulić, eine der bedeutensten serbischen Schriftstellerinnen, ist abgedruckt. Sekulić verbrachte den gesamten Krieg in Serbien. Ein junges Mädchen kommt auch zu Wort, wenn auch nur als Erzählerin im Roman von Branislav Nušić. Das Schicksal der Architektin Jelisaveta Načić, die in das Lager nach Neusiedl am See deportiert wurde, ist auch Thema. Die Frauenperspektiven und Frauenschicksale waren mir sehr wichtig, um nach Möglichkeit ein umfassendes Bild zu präsentieren.

 

Buchcover der serbischen Ausgabe
Buchcover der serbischen Ausgabe

Als eines der markantesten Themen kann der dreimonatige Fußmarsch gelten, den die erst beim zweiten Feldzug besiegte Armee, als sie sich aus Serbien zurückziehen musste, gemeinsam mit der flüchtenden Bevölkerung im Winter 1915/16  unter unmenschlichen Bedingungen über die albanischen Berge ans Meer unternehmen musste, um danach von den Verbündeten mit Schiffen nach Korfu und Bizerta gerettet zu werden. Viele sind auf dieser Flucht erfroren, verhungert oder verschwunden; auch waren viele Künstler und Schriftsteller unter den Flüchtenden. Nicht nur deswegen ist es eines der meistdargestellten Themen in Literatur und Film. Zu den literarisch bemerkenswertesten Bearbeitungen des Themas gehört Rastko Petrovićs „Dan šesti“.

 

Einen Auszug aus dem Buch zu wählen stellte eine der größten Herausforderungen für mich dar. Dieser komplexe avantgardistische Roman ist erst als Ganzes zu verstehen. Da ich aber keineswegs auf das Schaffen von Petrović und insbesondere auf diesen Roman verzichten wollte, suchte ich nach einem Auszug, der den Inhalt des Romans, in dem das Kosmische auf das Mythologische trifft, am besten wiedergeben könnte – und fand ihn in dem Auszug, in dem ein Traum mitten in der Kriegswirklichkeit erzählt wird. Darin sind die Gedanken eines Intellektuellen, eines Künstlers im Krieg dargestellt. Der Roman wird ganz ohne nationalen und Kriegspathos erzählt.  Dieser faszinierende Roman fand seinen Verleger erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

 

Im Unterschied zu bekannten Autoren der Donaumonarchie wie Roda Roda, Hoffmannsthal, Zweig, Rilke, Polgar, die kriegsverherrlichende Texte schrieben, aber nicht an der Front waren, scheint es keine vergleichsweise „Schonung“ von Intellektuellen und Schriftstellern oder Künstlern auf serbischer Seite gegeben zu haben – sie mussten alle in den Kampf ziehen und konnten sich nicht wie viele renommierte österreichisch-ungarische Autoren stattdessen in die Propagandamaschine in ihrem Heimatland einspannen lassen. Das mag einer der  Gründe dafür sein, dass diese Texte oft vom Fronteinsatz erzählen und von Tod und schwerer Traumatisierung zeugen. Die Texte sind also mit nur wenigen Ausnahmen nicht patriotisch, sie besingen nicht heroisierendes Leiden, Opfern und Heldentum, sondern sie machen Not, Entbehrung, Angst und Traumatisierung erfahrbar, und stellen außerdem nicht nur das Leiden der Armeeangehörigen sondern auch das der Zivilbevölkerung aus. Es sind also starke und durchwegs politische Texte, die den Horror des Krieges erlebbar machen. Wie verlief denn die Rezeption eines solchen Antikriegs-Buches im deutschsprachigen Raum – und gibt es interessante Unterschiede zu den Reaktionen in Serbien?

 

In Österreich-Ungarn fiel das gesamte Druckwesen unter die Zensur des Kriegspressequartiers. Somit entsprach das während des Krieges Veröffentlichte einer einheitlichen politischen Linie.  Durch die starken flächendeckenden Kämpfe in Serbien und die Generalmobilisierung war es nicht möglich, die Wirkung des serbischen Kriegspressebüros auf alle Veröffentlichungen zu erstrecken. Der Schreibstil wie auch die behandelten Themen entsprachen somit der politischen Orientierung der jeweiligen Zeitung – Regierungsblätter, bürgerliche, sozialistische oder nationale Blätter – oder des Verfassers selbst. Kriegsthemen und Emotionen beherrschten die literarischen Inhalte. Tod, Gräueltaten und Pessimismus standen dem Heldentum und Patriotismus gegenüber. Beherrschende Gefühle in allen serbischen Zeitungen 1914 sind einerseits das Leiden der Zivilisten, die sich vom ersten Kriegstag an an der Front befunden hatten und andererseits der nationale Stolz. Der Unterschied zwischen diesen zwei Ländern bestand in ihrer propagandistischen Arbeit, die an die Zivilbevölkerung gerichtet war. In Österreich-Ungarn musste der Krieg der im Hinterland lebenden Bevölkerung, den Frauen, Kindern und potentiellen Soldaten, als etwas Unvermeidbares, das von allen akzeptiert und unterstützt werden sollte, dargestellt werden. Im Gegensatz dazu war z.B. das gesamte Königreich Serbien vom ersten Kriegstag an bis Dezember 1914 eine Front. Der Zivilbevölkerung musste der Krieg nicht nahegebracht und erklärt werden. Sowohl Kinder als auch Frauen befanden sich mitten im Geschehen.

 

Ich glaube durchaus, dass jedes Buch, das sich mit dem Krieg befasst, ein Antikriegsbuch ist bzw. sein kann, aber das hängt vom Blick des Lesers ab. Im deutschsprachigen Raum sind mehrere Artikel über das Buch erschienen. Ich habe sie mit großem Interesse gelesen. Meistzitiert wurden die Buchpassagen, die die Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, den Gemütszustand der Soldaten an der Thessaloniki-Front und den Winter-Fußmarsch nach der Okkupation Serbien beschreiben. Auch bei den Lesungen kamen die meisten Fragen zu diesen Themen. Dass in diesem Buch die Schicksale der einfachen Soldaten und Künstler im Krieg durch ihr Erzählen oder Schreiben dargeboten wurde, wurde hervorgehoben.

 

Ich beabsichtigte zunächst eigentlich nicht, dass Buch auf Serbisch zu veröffentlichen. Nach den Rezensionen der deutschen Ausgabe seitens der serbischen Literaturwissenschafter und Historiker wurde aber klar, dass diese Materialienauswahl auch für den Leser in Serbien einen neuen Zugang zum Thema des Ersten Weltkrieges bietet. Daraufhin wurde das Buch im selben Jahr ins Serbische übersetzt, der Belgrader Verlag Samizdat B92 gab es heraus. Bei den Buchpräsentationen in Serbien waren die meisthervorgehobenen Themen dieselben wie auch beim deutschsprachigen Lesepublikum.

 

 

Das Interview wurde im Febuar und März 2017 geführt.

 

Buchinfo:

Ilić Marković, Gordana (Hg.): Veliki rat - Der große Krieg.
Der Erste Weltkrieg im Spiegel der serbischen Literatur und Presse

Promedia 2014. 272 S. brosch.
€ 19,90. ISBN: 978-3-85371-368-6

http://mediashop.at/buecher/veliki-rat-der-grosse-krieg

 

Biografie der Herausgeberin:

1964 geboren in Zenica (Bosnien und Herzegowina); Studium in Belgrad (Klassische Philologie an der Philosophischen Fakultät) und seit 1990 in Wien (Latein, Japanologie und Slawistik). Danach Senior Lektorin (Sprachbeherrschung) und Lehrbeauftragte  für Sprachwissenschaft, Areal- und Kulturkunde und Fremdsprachendidaktik am Institut für Slawistik an der Universität Wien. Schwerpunkte und Veröffentlichungen auf Deutsch, Serbisch und Englich aus folgenden Bereichen: südslawische und österreichische Kulturbezehungen, Presse und Literatur im Ersten Weltkrieg, Sprachenpolitik, Mehrsprachigkeit, Leseförderung, Literaturübersetzungen und Fremdsprachendidaktik. Dissertation am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien zum Thema „Sprache der Kriegspropaganda in der Presse und der Literatur im Krieg; Sprachen- und Bildungspolitik Österreich-Ungarns im besetzten Königreich Serbien (1915-1918)".