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Alma Lazarevska, Dario Džamonja und die Stadt Sarajevo. Eine intertextuelle Lektüre

Von Amir Nuhić

Den beiden Geschichten Wie wir den Matrosen umgebracht haben von Alma Lazarevska und Licht und Finsternis von Dario Džamonja liegt ein ähnliches Motiv zu Grunde: nämlich die in Bosnien recht weit verbreitete mündliche Überlieferung, dass irgendwo in der Welt ein Matrose sterbe, wenn man eine Zigarette mit der Kerze anzünde. Rund um dieses Motiv werden in beiden Erzählungen situationsspezifische persönliche Erlebnisse geschildert, aus welchen sich die zwischenmenschliche Beziehung als thematischer Schwerpunkt herleiten lässt. Ferner könnte man Einsamkeit, beziehungsweise Zweisamkeit, als einen weiteren Themenkreis festhalten. Im Volksmund stehen das Mitleid und der Aberglaube, jemandes Leben retten und unterdessen eine gute Tat vollbringen zu können, im Mittelpunkt. Lazarevska und Džamonja stimmen in ihren Texten dieser Anschauung nur bedingt zu. Vielmehr gehen sie explizit von der Position aus, dass es nichts koste, diesen „Unsinn“ zu glauben, das Leben präsentieren sie aber als eine durchaus komplexe Erscheinung. Das Komplexe entsteht auf Grund verschiedener Phänomene: bei Lazarevska ist es im konkreten Fall die Extremsituation Krieg und die dadurch entstandene physische Isolation, bei Džamonja das ewige „das eigene Leben nicht in den Griff kriegen“, was im weiteren Sinne auch nichts anderes als Kampf oder Krieg, hauptsächlich gegen sich selbst, bedeutet.

 

Um diese Konstellation literarisch repräsentativ zu gestalten machen sie von der Symbolhaftigkeit der Opposition Licht-Finsternis und hell-dunkel Gebrauch. Der Anstoß ist die materielle Notlage. Trotz ihrer Vorliebe für die wie Operationssäle hell beleuchteten Räume, muss die Heldin Lazarevskas ihr Dasein in der belagerten Stadt, wo Zündhölzer eine wahre Kostbarkeit bedeuten, im Halbdunkeln ihrer „Hülle“ bei spärlichem Kerzenlicht fristen. Džamonjas Held ist mit dem matten Licht in seinem Zimmer absolut zufrieden, da seine weibliche Begleitung ja auch das Elend seiner Behausung und den in den Ecken sich stapelnden Müll nicht zu sehen bekommen sollte. Seine durch Untauglichkeit und Nachlässigkeit hervorgerufene Misere unterscheidet sich also grundsätzlich von der Notlage der Heldin in der Geschichte Lazarevskas.

Obwohl Lazarevskas Geschichte einen indirekten, allerdings leicht erkennbaren Bezug zu Džamonjas Geschichte aufweist, unterscheiden sich die Erzählungen durch den Stil und durch die Perspektive grundsätzlich. Dabei sollte man an die (außerliterarische) weibliche, beziehungsweise männliche Perspektive denken, denn in beiden Werken wird das Geschehen aus der Ich-Perspektive geschildert. Die intertextuelle Referenz ist deshalb indirekt, weil Lazarevska in der Regel auf eine konkrete Benennung verzichtet und ansonsten auf der paradigmatischen Ebene sehr viel stilisiert und mit Formen spielt, was Džamonja als illusionsloser (Nach-)Erzähler der Alltagsgeschichten nur selten praktiziert.


Dementsprechend führt er beispielsweise sehr viele Namen an, obschon in der betreffenden Geschichte nur von „ihr“ die Rede ist, während Lazarevska durch Umschreibungen und Ersatzformen Verfremdungseffekte schafft und den Leser gewissermaßen mehr fordert. Der Leser impliziert, dass der Protagonist in der Kurzgeschichte Wie wir den Matrosen umgebracht haben der Ehemann der Ich- Erzählerin ist, wenngleich sein Name, wie auch die Bezeichnung „Ehemann“ ausgespart bleiben und an ihrer Stelle nur das Pronomen „er“ vorkommt. Eine ähnliche Methode verwendet Lazarevska, um das Profil des Dario Džamonja, der nirgendwo in der Erzählung mit dem vollen Namen genannt wird, darzustellen. Der Spitz- und Kosename „Daco“, abgeleitet von Dario, verweist auf Bekanntschaft, womöglich auch auf Freundschaft und Nachbarschaft:

„Kennst du Dacos Adresse in Amerika?“

„Wie bitte?“
„Kennst du Dacos…“
„Welcher Daco?“
„Der Schriftsteller Daco!“ (Lazarevska 2002, 52)

 Lazarevska arbeitet viel mit Signalen, sie gibt Indizien und macht Andeutungen, aus welchen sich ein bestimmter Sachverhalt erschließen lässt. Der Leser erfährt zumindest, dass Daco ein Schriftsteller ist, und zwar einer, der wie Lazarevska eine Vorliebe für das Detail hat. So liest man bei der Autorin folgendes: „Mit den Fingern nimmt er etwas vom herunterlaufenden Paraffin“ (Lazarevska 2002, 52).

Und bei Džamonja wiederum heißt es: „Sie spielte mit dem Wachs, das die Flasche hinab schmolz[…]“ (Džamonja 2003, 118).

Die „Detailansicht“ gebraucht Džamonja im Allgemeinen jedoch seltener als Lazarevska, was abgesehen von Stoffwahl möglicherweise auch mit der Kürze und Geradlinigkeit der Handlung seiner Geschichten zusammenhängt. Lazarevska Geschichten sind in der Regel länger und mit sehr vielen Details ausgeschmückt. Für sie ist die Lebenswirklichkeit ebenfalls voll von Winzigkeiten und Zufällen, die „einer zukünftigen Geschichte Nahrung geben“ könnten, deshalb trägt sie auch immer eine Lupe, die man als ein Symbol ihres Schaffens verstehen könnte, in ihrer Handtasche mit sich, wie sie in einem Gespräch mit Studierenden an der Universität Innsbruck im März 2009 meinte – und prompt eine Lupe aus der Tasche hervorzog. Die Autorin verknüpft die Datails inhaltlich wie formal sehr gekonnt miteinander, wodurch ihre Texte einen systematischen Charakter erzielen. Trotzdem könnte sich ein an derartige Literatur nicht gewöhnter Leser durch die Vielschichtigkeit und den häufigen Paradigmenwechsel verwirrt und überfordert fühlen. Der Sprung zwischen dem Erdachten und dem Vorhandenen geschieht ohne „Vorwarnung“ plötzlich und unerwartet, mit Fortdauer der Lektüre kann sich der Leser aber gut auf den Text einstellen und den gesamten Zusammenhang mehr oder weniger leicht im (Unter)Bewusstsein realisieren, sofern ein klarer Zusammenhang besteht, deshalb spielen hierbei Kombinationsfähigkeit und Phantasie eine wesentliche Rolle.


Das semantische Umfeld des Begriffs zwischenmenschlich wird bei Lazarevska besonders stark ausgelastet. Die Autorin greift in ihrer Erzählung nicht nur eine durch schwierige Lebensbedingungen gekennzeichnete Zweierbeziehung auf. Das erweiterte Zwischenmenschliche spiegelt sich nicht bloß in der expliziten Intertextualität wieder,

„Ich habe herausgefunden, woher er das mit der Zigarette und der Kerze hat. Heute morgen stöbere ich in den Büchern auf den Regalen. Aus dem Buch von Daco fiel eine alte Rechnung. Dort, wo sie eingelegt war, steht, daß jedesmal, wenn du die Zigarette mit der Kerze anzündest, irgendwo in der Welt ein Matrose stirbt“ (Lazarevska 2002, 51)

… sondern orientiert sich in weiterer Folge an der Privatperson des Nachbarn und Mitbürgers:

„Daco ist jetzt in Amerika. Jeder hat seinen Kummer, auch außerhalb der belagerten Stadt.“ (Lazarevska 2002, 52).

Lazarevska, die 1957 in Mazedonien geboren wurde und schon als Kind nach Sarajevo übersiedelte, wo sie heute noch lebt und arbeitet, benutzt absichtlich das Syntagma Die belagerte Stadt und vermeidet in allen ihren (Kriegs-)Geschichten den in der Kriegszeit in den Medien und im Hinblick auf die politische Tragkraft oft überstrapazierten und missbrauchten Begriff Sarajevo, deshalb betont sie, dass Sarajevo in diesem Sinne nur „ein leeres Wort ist“ und lehnt es ab, als DIE Schriftstellerin der Stadt Sarajevo verstanden zu werden: „Ich bin nicht eine von denen, die zu behaupten wagen, Sarajevo zu kennen, die famose Formulierung Sarajevo-Geist ist mir fremd. Natürlich hat die Stadt das Bedürfnis nach einem Schriftsteller in dessen Spiegel sie ihre Tugenden und Laster, ihr Angesicht, ihre Kultstätten, ihre Mythologie, sogar ihren internen Klatsch wieder erkennen kann… ich denke nicht, dass ich diese Art Schriftsteller bin. Ich bin ein Schriftsteller des Mikroplans. Da fehlt es nie an der Inspiration.“[Lazarevska, Alma im Interview für Sarajevo-x.com auf www.sarajevo-x.com/kultura/clanak/080616060, Juni 2009] 

 

Im Unterschied dazu könnte man gerade Dario Džamonja (Daco) als Schriftsteller der Stadt Sarajevo per excellence charakterisieren, trotz aller Schicksalsschläge und negativer Erlebnisse, die auch ihn mit dieser Stadt verbinden. Er wurde 1955 in Sarajevo geboren, wo er 2001 auch starb. Er selbst betonte, dass man keine besonderen Angaben zu seiner Biographie machen sollte, weil alles Wissenswerte über ihn bereits in seinen Werken stünde (schwere Kindheit, Armut, Selbstmord des Vaters und des Onkels, Tod der Großeltern, unglückliche Beziehungen und schließlich auch die Prophezeiung des eigenen Todes). Zahlreiche Geschichten von ihm sind direkt oder indirekt durch die čaršija (Bürgerschaft), Straßen und Kneipen in Sarajevo inspiriert. In der Manier eines Charles Bukowski beschreibt er schonungslos das eigene Dasein, das unzertrennlich mit Alkohol, verrauchten Kneipen und unglücklichen Lieben verbunden ist, klammert aber in der Regel das heitere Element aus, wodurch ein überaus pessimistischer und allenfalls (selbst)ironischer Ton entsteht. In dieser Hinsicht zeichnet Džamonja ein einigermaßen naturalistisches Bild eines durch das Milieu gekennzeichneten Menschen. Džamonja bezeichnete sich selbst als „Der Kaiser des Nebels“, „Das Kind des Asphalts“, „Das Phantom von Marin dvor“, und obschon auch in seinen Geschichten unter anderem der Mikroplan dargestellt wird (eine ganze Erzählung „widmet“ er beispielsweise seinem Ebenbild im Spiegel), unterscheidet sich seine zum Teil schroffe und realistische Erzählweise durchaus vom postmodernen Stil Alma Lazarevskas. Er selbst, beziehungsweise sein literarisches Ich, ist vorwiegend auch der Hauptprotagonist, der seine eigenen Erlebnisse, Gefühle und Erfahrungen reflektiert und nur selten eine andere Handlungsfigur installiert. Der Schauplatz seiner in Bosnien verfassten Geschichten ist meist Sarajevo. Die Struktur und die Themen seiner Kurzgeschichten sind dermaßen einfach, dass der Leser kaum Grund hätte, irgendwelche Hypothesen aufzustellen. Džamonja verzichtet auf vieldeutige und komplizierte Metaphern und Symbole und malt direkt und kurz mit minimalistischen Mitteln das Bild des eigenen verwundeten und emotionsgeladenen Wesens. Wie Alma Lazarevska begann er seine schriftstellerische Laufbahn als Kolumnist in diversen Sarajevoer Zeitungen und das ist vielleicht auch der Grund, warum ihn das Publikum früher als die Kritik entdeckte und bewunderte. Dass er eine Art Ikone der Stadt Sarajevo war, beweist auch die Trauerrede des bosnischen Schriftstellers Abdulah Sidran bei seinem Begräbnis: „Gibt es denn irgendjemanden in Sarajevo, der an jenem Tag, an dem in den Zeitungen die Nachricht bekannt gegeben wurde, dass Dario Džamonja sich vom Leben verabschiedet hatte, der nicht weinte, dem das Herz nicht erstarrte?“  


Lazarevska und Džamonja, zwei Schriftsteller, die in der Art und Weise ihrer Annäherungen an ihre literarischen Gegenstände nicht unterschiedlicher sein könnten, finden im Phänomen Sarajevo doch einen gemeinsamen Nenner. Obwohl Lazarevska vom Sarajevo-Geist nicht viel hält, sich sensibel und penibel auf den Mikroplan konzentriert und selbst die explizite Benennung der Stadt in ihren Werken vermeidet, erinnert der Name Dario Daco Džamonja unvermeidlich und offen tituliert an gerade dieses Phänomen – Sarajevo, ein pulsierender Makrokosmos, in dem ständig wahre oder ausgedachte Geschichten kursieren und sich unablässig allerlei Ereignisse zutragen. Džamonja verstand es wie kaum ein anderer Schriftsteller aus der Stadt Sarajevo daraus eine sonderbare literarische Form zu schaffen, eine Art „nackter Wahrheit“.


September 2009

Džamonja Dario: Ptica na žici. Sarajevo. Buybook 2003.
Lazarevska Alma: Wie wir den Matrosen umgebracht haben. In: Terra Bosna. Europa erlesen. Klagenfurt: Wieser Verlag 2002.