Prolog
…ich möchte Ihnen HelenA vorstellen. HelenA gibt es nicht. HelenA hat sich im Zuge einer, meiner Suche gefunden, eingefunden (nein, nicht ergeben, wie Sie sich nun vielleicht vorstellen könnten) im Zuge einer Suche, auf die ich mich begeben habe, um den Spuren einer anderen zu folgen. HelenA ist nicht meine Erfindung. HelenA ist keine Eingebung. HelenA ist mit Sagen umwoben, mit einem Hören-Sagen, das sie niemals ganz auf den Plan gerufen haben wird. HelenA ist eine heiß umkämpfte Leerstelle von großer Bedeutung. HelenA ist ein Topos, an dem sich die Zeit vergangen hat. Von HelenA bekommen Sie nicht alles zu hören: HelenA schreibt sich mit großem (mit kapitalem) A am Ende des Namens, der kein Eigenname ist. HelenA steht nicht für Eine, HelenA steht für all jene, deren Fährte ich aufnehmen, die ich mir durch meine Spurensuche vergegenwärtigen wollte und denen ich jedoch nicht nachkommen konnte. An ihrer Statt ist HelenA aufgetaucht, sie hat sich zu mir gesellt, während ich dabei gewesen bin, Indizien für den Verbleib der Anderen zu sammeln, ihre Spuren aufzulesen. Ich bin nicht ganz dabei gewesen, HelenA hat mich abgelenkt. HelenA ist meine Gastgeberin. Nicht ich kann sie vorstellen, sie hat mir mich, mich auf den Spuren kultureller Identität, vorgestellt. Vielleicht folgen sie also mir, mir auf der Spur, mir beim Fährtenlesen, auf dass auch Sie HelenA begegnen. Wir möchten uns HelenA doch nicht einbilden? HelenA sagt uns doch etwas?
I. Erste Etappe – Voraussetzungen im Namen von...
Wir sind der Protagonistin einer Erzählung von Seher Çakir auf der Spur. Seher Çakir lebt in Wien, schreibt Erzählungen und Gedichte. Seher Çakir schreibt ihre Erzählungen und Gedichte auf Deutsch und hat, in einem Vorwort, „Migrantenliteratur“ mit Gänsefüßchen versehen[1], um ihre aus einer Schublade gezauberte Sonderstellung zu entstellen. Trotzdem (trotzdem?) heften wir uns an die Fersen einer ihrer Protagonistinnen. Deshalb (deshalb?) heften wir uns an die Fersen einer ihrer Protagonistinnen. Unser Anliegen an den Text Çakirs gibt sich selbst preis, indem wir es nicht für uns behalten können, es voraussetzen müssen, um ihm, diesem Anliegen, nachgehen zu können und es zugleich jedoch mit jedem Schritt, den wir entlang des Textes gehen, mit dem wir unserem Anliegen folgen, neu fassen: das, was wir in Çakirs Erzählung Helen und ihre Haut zu suchen haben, liegt vor, vor uns; es schwebt uns vor und wir, wir halten es in der Schwebe, mit jedem Schritt ein Gleichgewicht störend, jeder Schritt ein Balanceakt, ein Seiltanz von einem Moment des Anliegens zum nächsten. Was wir in Helen und ihre Haut zu suchen haben, das ist HelenA, oder vielmehr: die Gastfreundschaft HelenAs.
Ihr Name ist Helen. […] Aus Hülya wurde Helen, die Schöne, […].[2]
Der Rahmen des ersten Abschnittes der kurzen Erzählung wird gebildet, indem Helen vorgestellt und Hülya als Helen ausgewiesen wird. Dazwischen, zwischen diesen Sätzen liegt die Geschichte einer doppelten Namensgebung: eine Dreizehnjährige, die im Geschichtsunterricht von Helena, der schönen Griechin, und Troja, der „bedeutenden Stadt […] im Nordwesten der heutigen Türkei“(S.77), erfährt und beschließt, sich von nun, von dieser Geschichtsstunde an, Helen zu nennen:
Was sie gehört hatte, reichte ihr, von da an Helen heißen zu wollen. Erstens waren ihre Eltern aus [dem Nordwesten der Türkei] nach Wien ausgewandert, zweitens wollte sie so schön sein wie Helena. (S.77)
Diese Autonomie, dieser Akt, sich selbst noch einmal aus der Taufe zu heben, wird gebrochen durch den pädagogischen Effekt, mit dem diese ‚Taufe’ eingebettet wird in den kontinuierlichen, akkumulativen Zeitstrom jener ‚Geschichte’, in welche sowohl Helena, die schöne Griechin, als auch die Migrationsbewegung der Eltern eingeschlossen sind und von der wir im Namen einer kulturellen Herkunft, einer Tradition über die Zeit hinweg unterrichtet werden. In den begründenden Akten des (nationalen, kulturellen, ...) Eigenen hat die Zeit als iterative, rekurrierende Kraft, nichts verloren: „Das Eigene ist der Sieg des Ortes über die Zeit“[3]. Der Eigenname Helen wird im Zuge dieser ersten Geschichte der Namensgebung in einer zweifachen Überlieferung festgestellt und anhand der den Lauf der Zeit außer Kraft setzenden Simultanität an jenen Ort verwiesen, an dem abendländisches Erbe, Familien-Geschichte und Selbst-Taufe kumulieren zu einem überzeitlichen Ganzen, bei dem Migration allenfalls als statischer, als statistischer Hintergrund, nicht jedoch als konstitutive, kulturelle Entitäten unterwandernde Bewegung zum Vorschein kommen kann.
In Bewegung gerät diese Eigennamensgebung in ihrer zweiten Geschichte: der Akt, sich selbst noch einmal aus der Taufe zu heben, wird dem kontinuierlichen, akkumulativen Zeitstrom dadurch entrissen, dass er, um vollzogen zu werden, wiederholt werden muss –
Es hatte einige Zeit gedauert, bis alle sie Helen nannten, aber irgendwann war es dann soweit. Nur ihre Eltern und Adem, ihr bester Freund, kannten noch ihren eingetragenen Namen Hülya. (S.77)
Der Zeitpunkt, an dem abendländisches Erbe, Familien-Geschichte und Gegenwart kumulieren, verliert seine überzeitliche Simultan-Fassung: damit jener Akt der Selbst-Taufe, der ihn, diesen Zeitpunkt, begründet, vollzogen werden kann, muss er, dieser Akt der Namensgebung, wiederholt werden. Diese Wiederholung ist „in jedem einzelnen Fall gesellschaftlicher Praxis sowohl different als auch differentiell“[4]; mit jeder Nennung des neuen Namens wird der Akt der Taufe übersetzt – jedes Mal in seine Einmaligkeit. Durch die Übersetzung seiner Differenz wird der Akt vollzogen und gleichzeitig außer Kraft gesetzt: der Akt der Selbst-Taufe verliert in seinem Vollzug, in seiner Anwendung sein gravitätisches Zentrum.
„Helen“, sagt sie heute, wenn jemand sie nach ihrem Namen fragt. Manche fragen dann, ob sie ihre Wurzeln in Griechenland habe. „Wer weiß schon so genau, wo seine Wurzeln liegen?“, antwortet sie
dann […] (S. 77)
Bei diesen beiden Geschichten einer Eigennamensgebung handelt es sich weder um die Geschichte einer ‚gelungenen Integration’, in welcher der eine – türkische // fremde –
Name ersetzt wird durch einen die Tradition der neuen ‚Heimat-Kultur’ markierenden; noch handelt es sich um die Geschichte einer ‚Identität zwischen den Kulturen’, deren
kulturelle Konstituenten sich auseinander halten, sich jeweils der einen und der anderen einen Kultur zuordnen ließen; es ist die Geschichte einer doppelten Namensgebung, der Dissemination eines
Eigennamens, welche seinen traditionellen, akkumulativen Aspekt preisgibt im Namen jener Differenz, die sich in ihm vollzieht und ihn, den verfremdeten, unvollständigen ‚griechischen’ Namen, zum
Vollzug bringt. Helen ersetzt Hülya nicht ganz – die Substitution erfolgt nicht restlos, nicht ohne Weiteres maskiert sie Differenz und Absenz; die Spuren Hülyas, die Helen trägt, die Spuren
Helenas, der schönen Griechin, die Hülya und schließlich Helen tragen, ergänzen nicht den Vorbehalt, mit dem ein Fehlen, ein essentieller Mangel registriert werden könnte: Helen repräsentiert
nicht Hülya, Hülya und Helen repräsentieren nicht Helena und Helena repräsentiert nicht gleichsam Kulturen übergreifend jene gemeinsamen Wurzeln, die als Hypokrisie des Anfangs Voraussetzung sind
sowohl für die Konstruktion kultureller Identitäten als auch für deren logozentristische Unterscheidung.
II. Zweite Etappe – Grundsatz-Fragen
Unser Weg führt uns von Helen über Helena, die sagenhaft schöne Griechin, zu Hülya und weiter zu Helen; auf ihm, diesem Weg, kommen wir jedoch auf keine der Genannten zurück, auf ihm können wir keine zurückführen, weder auf sich, noch auf eine Andere. Vor uns zeichnet es sich ab, das Gesicht HelenAs, HelenAs mit großem A, es trägt die Spuren der eben Vorübergegangen, all jener, die eben passiert sind.
Ihr Name ist Helen. […] Aus Hülya wurde Helen, die Schöne, die vielen Männern den Mund wässrig macht, aber keinem den Durst löschte. So sieht sie sich heute. Doch es gibt Einen, auf den sie wartet. (S. 77)
„Aus meinem Kind wirst du keine ‚Burjuva’ machen!“, hatte ihr Vater geschrieen, als ihre Mutter ihr zum 14. Geburtstag ein Set, bestehend aus Nagellack und Lippenstift, schenkte. (S. 78)
Zwischen dem letzten Satz des ersten Abschnittes und dem ersten Satz des zweiten liegt die Geschichte dreier Grundsätze: Helen wählt den „rötesten aller roten Lippenstifte“ (78); der Mann, den Helen heiraten wird, „[muss] aus der Türkei stammen, oder zumindest seine Eltern“ (S. 81) und Helen wird als Jungfrau in die Ehe gehen. Im kontinuierlichen, akkumulativen Zeitstrom wird das Begehren, als Schöne (griechische Helena) begehrt zu werden, mit dem von der Mutter gekauften, seitens des Vaters abgelehnten roten Lippenstift, einer unerfüllten ersten großen Liebe (zu Adem), einer Masturbationsszene und einer bislang erfolglosen Suche nach einem Ehemann eingeschlossen in die allgemeine, d.h. wiederum kulturenübergreifende Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau; die ‚türkische Frau’ hingegen legt sich fest auf einen zumindest in zweiter Generation aus der Türkei stammenden Ehemann und auf sexuelle Enthaltsamkeit bis zur Ehe.
In der ersten Geschichte, der allgemeinen Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau, wird der Grundsatz, den „rötesten aller roten Lippenstifte“ auszuwählen aufgehoben in jener Bewegung, mit der die Liminalität der Adoleszenz ihrem guten, ihrem allgemeinen Grund zugeführt wird: als notwendige Entwicklungsphase wird sie, die Adoleszenz, überwunden, indem das in ihr angelegte Wesentliche – ein Frau-Sein – in ein höheres Stadium überführt und schließlich zur Vollendung gebracht werden wird. Unter diesem akkumulativen Gesichtspunkt, in dem die Geschichte zur Phase, zur Entwicklungsphase kumuliert, entsprechen alle Handlungen – von der Wahl des Lippenstifts bis zur Masturbation – dieser Bewegung, die sie, die Handlungen, auf ihren guten, ihren allgemeinen Grund sowohl zurückführen- als auch hinausführen wird. Die Adoleszenz als Übergang gerät somit zum Beiwerk dieser akkumulativen Bewegung, welche das Konkrete im Allgemeinen aufgehen und kraft der Simultanität des Universellen das Allgemeine im Konkreten durchscheinen lässt. Zwischen diesem ersten, insofern aufgehobenen Grundsatz und den beiden anderen Grundsätzen besteht eine Kluft, die – natürlich – vom Vater markiert wird: „Aus meinem Kind wirst du keine ‚Burjuva’ machen!“ Das Territorium, das durch den väterlichen Ausruf markiert und also abgrenzt wird, ist durchzogen von jenem Spalt, welcher ‚die Frau’ im Allgemeinen von der ‚türkischen Frau’ im Besonderen trennt: auf der einen Seite das ‚allgemein Weibliche’, das sich an dieser Stelle im aufgetragenen Lippenstift und Nagellack zeigt; auf der anderen das ‚Türkische’, das sich in der dem väterlichen Ausruf folgenden Diskussion zwischen Vater und Mutter widerspiegelt:
„Mann!“ hatte sie [die Mutter] ausgerufen, „Mann, misch dich nicht ein, das verstehst du nicht. Nur weil sie sich die Finger bemalt, wird sie schon keine ‚Burjuva’ werden.“
„Meine Tochter braucht sich nicht die Finger und das Gesicht zu bemalen, um irgendwelchen Eseln zu gefallen, meine Tochter...“, sagte er noch und wurde gleich von der Mutter unterbrochen.
„Mann! Sie ist ein Kind! Halt jetzt endlich den Mund!“ (S. 78)
Artikuliert wird diese grundsätzliche Kluft auf dem Territorium Helen // Kind // Frau durch den Ausruf des Vaters, welcher zugleich als ‚universeller’ und als ‚türkischer’ Vater auftritt: die Tochter, die nicht „irgendwelchen Eseln zu gefallen“ hat, wird als „Burjuva“ bezeichnet. Um nun unsererseits Helen // die junge Frau // die türkische Frau weiter erschließen zu können, beginnen wir, Indizien für die Konstitution ihrer Grundsätze zu sammeln, mit welchen es uns gelingen soll, diese Kluft zu überwinden, zu überbrücken, oder nein, vielmehr: uns über sie hinweg, uns durch sie hindurch zu übersetzen, überzusetzen zu HelenA (mit großem A).
III. Dritte Etappe – Indiziensammlungen
Wir haben es also mit einer jungen Frau // mit einer türkischen Frau zu tun: die Artikulation des Gegensatzes vollzieht sich in der auf den Ausdruck einer Entwicklungsphase des Weiblichen angewandten Bezeichnung „Burjuva“. „Burjuva“ ist vordergründig kein Schimpfwort für eine tugendlose Frau, sondern heißt zunächst nichts anderes als ‚Bürger_in’ oder ‚Bourgeois_e’: die Gesichts- und Fingerbemalung, welche „den Eseln gefallen“ könnte, wird in und mit diesem Ausdruck also nicht (zumindest nicht vordergründig) einer Kurtisane oder Sexarbeiterin zugeordnet, sondern einer Bürgerlichen. „Aus meinem Kind wirst du keine [Bourgeoise] machen!“ – in und mit dieser Übersetzung gerät der Gegensatz, der sich im väterlichen Ausruf artikuliert, insofern in eine Krise, als der weitere Verlauf der Diskussion zwischen Mutter und Vater – im Hinblick sowohl auf die „Esel“, denen die Tochter nicht „zu gefallen“ braucht, als auch auf die beiden anderen Grundsätze Helens – aus den Fugen des Grundsätzlichen gerät. Wir wissen und erfahren nichts über soziale Klassifikationen, politische Einstellungen und Positionierungen, denen wir die Bezeichnung ‚Bourgeois_e’ eher zuordnen würden als Grundsätzen und Moralvorstellungen, deren ‚kulturelle Prägung’ sich immer nur unter der Voraussetzung eines Allgemeinen, der Hypokrisie gemeinsamer Wurzeln eindeutig feststellen lässt. Die Kluft zwischen der Adoleszenten als Verkörperung eines Entwicklungsstadiums des Weiblichen – jener also, die den „Eseln“ gefallen möchte, der „Burjuva“ – und der türkisch-muslimischen Tochter, welche den ‚kultur-spezifischen’ Anforderungen zu entsprechen hat, verschiebt sich entlang der Übersetzung von „Burjuva“ in ‚Bürgerliche’ oder ‚Bourgeoise’. Die Gegensätzlichkeit verliert einen jener Aspekte, welcher sie konstituiert hat eben unter jenem Vorzeichen, das ein Allgemeines, einen (gemeinsamen) Ursprung unterstellt hat.
Auch die Entwicklungsgeschichte, zu welcher die Handlungen der jungen Helen – von der dem Begehren, begehrt zu werden, anheim gestellten Selbst-Taufe bis zur immer wieder aufgenommenen Suche nach einem Ehemann – kumulieren und in welcher diese Handlungsakte zu einer allgemeinen Un-bedingtheit gerinnen, wir von jenem Moment an in Bewegung geraten sein, an und in dem der Akt der Selbst-Taufe sein gravitätisches Zentrum verliert: das Begehren, als Helena (als schöne Griechin) begehrt zu werden, verliert seinen überzeitlichen Aspekt, indem die Namensgebung durch ihre „differente wie differentielle“ Wiederholung dem kontinuierlichen, akkumulativen Zeitstrom entrissen wird. Helens Wahl des „rötesten aller roten Lippenstifte“ ist nicht mehr eindeutig entlang der allgemeinen Ontogenese des ‚Weiblichen’ syntaktisch zu verorten – die Grundsatz-Diskussion zwischen Vater und Mutter, die durch diese ‚weiblichen’ Attribute (Nagellack und Lippenstift) ausgelöst wird, ist markiert durch jene Ambivalenz, mit welcher sich die Übersetzung des Ausdrucks „Burjuva“ in „Bourgois_e“ trägt und welche das Begehren, als schöne Helena begehrt zu werden, auszeichnet, indem es sie einer selbstverständlichen Un-bedingtheit entreißend in den Raum stellt.
Die erste große Liebe Helens zu Adem – „Der Auserwählte war Adem aus der Nebenklasse“ (S. 83) – scheitert und scheitert nicht. Sie scheitert jenen Maßstäben zufolge, die – ganz natürlich und insofern wiederum un-bedingt – angewandt werden auf Geschlechter-Verhältnisse. Zunächst auch von Helen: ihr Begehren, von Adem geliebt // begehrt zu werden, verliert sich jedoch in Adems Geständnis, dass er sich in Herbert verliebt habe.
„Es ist eine Schande, dass du Männer Frauen vorziehst!“, hatte Helen Adem gesagt, als er ihr vor Jahren in der Pausenhalle gestanden hatte, dass er sich in Herbert verliebt hätte. „Von allen
hätte ich das erwartet, aber nicht von dir! Wie kannst du nur so etwas sagen?“, hatte Adem gekränkt reagiert. […] „Ich habe mehr von dir erwartet!“, fügte er noch hinzu. „Ich auch!“, stotterte
Helen. „Ich wollte dich nicht kränken... es ist nur... ich dachte... dass du...“
Adem hatte sie nicht aussprechen lassen. „Tu ich auch, Helen! Ob du mir glaubst, oder nicht, ich liebe dich wirklich. Es ist nur eine andere Liebe als du sie für mich zu empfinden glaubst!“ (S.
78-79)
Die Liebe Helens zu Adem scheitert nicht, sie scheitert insofern nicht, als die – ganz natürlich – angewandten Maßstäbe nicht mehr ohne Weiteres stillschweigend und klammheimlich vorausgesetzt werden können. Sie, diese Maßstäbe, treten zutage und werden ihrer un-bedingten Gültigkeit entrissen: Adem ist nicht die Schicksals-Haft, in welche Helen // Helens Begehren genommen wird; Adem markiert den Fluchtpunkt dieses Begehrens – nicht im akkumulativen Sinne des Ursprungs oder der über alle Zeiten hinweg gespannte Projektionsfläche eines Prinzessinnen-Dramas, sondern als Ausgang, den dieses Begehren – als differentielle Bewegung – nimmt, ohne auf einen Ausgangspunkt zurückgeführt werden zu können. Nachdem Helen einige Zeit noch an der Idee, Adem könne „zur Vernunft“ (S. 84) kommen, festgehalten hat, „[gibt] sie auf“, sie gibt nicht Adem auf, sondern die Vorstellung, Adem zu heiraten. Adem und Helen ‚bleiben’ Freunde: sie sind nicht einzementiert in eine Bleibe unerfüllten, aufgehobenen Begehrens, sondern bauen sich ihre Bleibe, die sie fort-, die sie weiterträgt, in andere Räume, in denen sich ihr Verhältnis abspielt, sich in verschiedene Szenen, sich unterschiedlich in Szene setzt (etwa in Adems Lokal, das er nach seiner großen Liebe „Alex“ benannt hat: Helen ist oft zu Gast bei Adem im „Alex“, wo Adem sie, Helen, mit „Schatz“ anspricht).
Die Indizienkette, die uns zu Helen als junge Frau an sich zurückführen sollte, ist an mehreren Stellen gerissen: wir kommen nicht mehr auf ‚die junge Frau’ an sich zurück. Eine Andere zeichnet sich ab, eine Andere als jene, die sich innerhalb der Entwicklungsgeschichte, der Ontogenese des ‚Weiblichen’ vorausgesetzt hat. Die Zeichen der kontinuierlichen, akkumulativen Zeit der Entfaltung des ‚Weiblichen’ im Allgemeinen verweigern ihren Repräsentationsdienst, indem sie als Spuren im Sinne von Emmanuel Lévinas „bedeuten, ohne erscheinen zu lassen“, ohne das Konkrete – die konkreten Handlungen und Anliegen Helens – im Allgemeinen restlos aufgehen, ohne das Allgemeine – das universell ‚Weibliche’ – im Konkreten – den Akten Helens – erscheinen zu lassen.
Während der erste Grundsatz, den „rötesten aller roten Lippenstifte“ zu wählen, als Teil, Detail eines Ganzen festgestellt metonymisch in die ‚natürliche’ Entwicklung einer jungen Frau im Allgemeinen eingegliedert wird, schließen die beiden Grundsätze der ‚türkischen Frau’, einen aus der Türkei stammenden Mann zu heiraten und als Jungfrau in die Ehe zu gehen, ihrerseits ein Allgemeines ein, allerdings unter der Voraussetzung jener Kluft, welche auf dem Territorium Helen // Kind // Frau das als universell konstituierte ‚Weibliche’ vom als allgemein türkisch konstituierten Besonderen, vom kulturell Eigenen trennt. Das in den besonderen Grundsätzen dieser jungen Frau eingeschlossene Allgemeine zeugt von Atem beraubender Kontinuität und Simultanität: ihnen, diesen Grundsätzen, können ganze Kultur- und Nationsgeschichten, synchronisierte Kultur- und Nationsräume unterstellt werden, auf dass jene Differenz, mit welcher die Identität Helens als Frau, als türkische Frau fest- und also gegenübergestellt werden kann, untermauert werde. Die Suche nach Indizien, die zu dieser Fest- und Gegenüberstellung, zur Eroberung des Territoriums Helen // Kind // Frau führen soll, verliert sich aber gerade in diesem unfassbaren Allgemeinen, das die Bodenhaftung der Differenz gewährleisten soll. Der Grundsatz, als Jungfrau in die Ehe zu gehen, wofür steht er? Welches Merkmal einer kulturellen, nationalen oder geschlechtlichen Entität repräsentiert er? Das Übermaß, in und mit dem diese kategorialen Entitäten gleichsam verflacht, synchronisiert, also ins Überzeitliche gestellt werden, führt zu einer Unentschiedenheit, mit welcher die Grundsätze ihre Bodenhaftung verlieren. Die Spuren ‚einer’ Kultur, einer ‚nationalen Herkunft’, oder einer kulturell-hybriden ‚Identität’ sind nur noch zerstreut lesbar – in jedem Akt des Spurenlesens zeichnet sich eine neue, eine andere Fährte ab, die als mehr oder weniger absehbar, als mehr oder weniger schlüssig erfahren wird. Spuren als Zeichen dafür, dass etwas vorübergegangen ist, können auch nicht in der Synchronizität gelesen werden, in der das den Grundsätzen unterstellte Allgemeine erscheint.
Folgen wir den Spuren des dritten Grundsatzes von Helen, als Jungfrau in die Ehe zu gehen, geraten wir aus der synchronisierten türkisch-muslimischen Kultur- oder Nationsgeschichte in die diskontinuierliche Geschichte eines Grundsatzes, der sich wieder-, auch überholt; der als Vorsatz auftritt, der sich als begründet, der sich als unbegründet zeigt.
Helen, unverheiratet, hat mit keinem Mann geschlafen –
Einer von Helens festen Grundsätzen war es, als Jungfrau in die Ehe zu gehen. […] Damit hatte sie einige Beziehungen bis zu einem gewissen Punkt führen können. Doch dann wollten die Männer mehr. Obwohl sie wussten, dass ein anständiges türkisches Mädchen vor der Ehe keinen sexuellen Kontakt haben sollte, wollten sie, dass Helen diesen Schritt doch setzte, weil sie, wie sie sagten, ja ohnehin heiraten würden. Doch kam es weder zu einer Heirat, noch gab Helen den Wünschen der Männer nach. (S. 81)
Die Fronten sind an dieser Stelle, im Sinne einer sowohl geschlechtlich als auch national verorteten Identität („ein anständiges türkisches Mädchen“) – grundsätzlich – geklärt. Der festgestellte Grundsatz ragt jedoch als Vorsatz in jene „Beziehungen, [die] bis zu einem gewissen Punkt“ geführt werden: der Grundsatz hat Grenzen, die nicht mit der eine nationale Identität begründenden partikulären Allgemeinheit gezogen werden, sondern die verhandelt, austariert werden dadurch, dass die „Beziehungen bis zu einem gewissen Punkt“ geführt werden, von Helen geführt werden. Die Konturen grundsätzlicher Unberührtheit verschwimmen, sie bilden einen unscharfen Rand, ein Rand-Gewebe, eine Innen-//Außen-Haut, durch welche hindurch Innen// Außen, Unberührtheit// Berührung diffundieren. Ein Durch-Atmen, Fusion, Diffusion und Konfusion der Gegensätze. An dem „gewissen Punkt“, bis zu dem die „Beziehungen geführt“ werden, fallen Begehren und Befriedigung, Vergangenheit (bislang‚unberührt’) und Zukunft (noch ‚unberührt’), Signifikat und Signifkant zusammen: „Es gibt keine textuelle Differenz mehr zwischen dem Bild und dem Ding, zwischen dem leeren Signifikanten und dem vollen Signifikat.“[5]
Nicht nur in der Bauchgegend auch darunter spürte sie dann eine von der Sonne wild gewordene Ameise hin und herlaufen. Dann glitt ihre Hand unauffällig dorthin, wo sie die Ameise spürte und wollte sie fangen. Immer, wenn ihre Finger in der Ameisenhöhle verschwanden, fühlte sie sich schuldig. Denn sie wusste nicht, ob sie beim Fangen der Ameise ihre Unschuld behielt oder nicht. Dann versuchte sie zu ertasten, wo was war und ob alles noch dort war, wo es sein sollte und es war so, als ob sich die Ameise mit einem Schlag vermehren würde. (S. 83)
Der „gewisse Punkt“, der Referenz-Punkt für die vorausgesetzte Unberührtheit, Helens „Haut“, das Hymen, liegt an der Schwelle zwischen Innen und Außen, zwischen Lust und Enthaltsamkeit, zwischen Entzug und Hingabe, Begehren und Befriedigung und nimmt gleichsam einen Raum ein, der nicht mehr durch die schlichte Gegensätzlichkeit von Innen/ Außen, berührt/ unberührt, enthaltsam/ lustvoll konstituiert wird. Das Hymen als Zeichen der Unberührtheit kann sich nicht in einer vollen Präsenz entfalten, sondern hält sich als zukünftiger Träger der Erinnerung seiner Zerstörung an der Schwelle, im Eingang, im Entree, entre, zwischen dem Versprechen und dem Vollzug.
Das Hymen hat Statt […] im Abstand zwischen [entre] dem Begehren und der Befriedigung, zwischen dem Begehen // Vergehen und seiner Erinnerung.[6]
Helen vergewissert sich ihrer „Unschuld“, indem sie sich an dieser vergeht – „wenn ihre Finger in der Ameisenhöhle verschwanden, fühlte sie sich schuldig. Denn sie wusste nicht, ob sie beim Fangen der Ameisen ihre Unschuld behielt.“ Helen versichert sich ihrer Unberührtheit, indem sie sich berührt – „Dann versuchte sie zu ertasten, […] ob alles noch dort war, wo es sein sollte […]“. Die Fusion, die Diffusion und Konfusion, der Gegensätze, die auf Helens „Haut“ Statt findet, in der Helens „Haut“ Statt hat, ist der Grundsatz, den Versprechen und Vollzug begründen, der sich zwischen Versprechen und Vollzug der Ehe begründet.
Dieser Grundsatz, der also nicht auf das Hymen als Indiz für Unberührtheit zurückgeführt werden kann, verliert im letzten Abschnitt der Erzählung ein weiteres Mal seine Bodenhaftung. Helen, die ihre Enthaltsamkeit bis zu jenem „gewissen Punkt“ verkörpert, wird nie eine Jungfrau gewesen sein.
Adem ist überrascht, dass Helen doch etwas essen will, holt die Nudeln und setzt sich wieder an den Tisch.
„Schatz, erzähl schon, was hast du!“, drängt er sie.
„Ich hatte seit zwei Monaten keine Periode. Schwanger kann ich ja nicht sein, also bin ich zur Frauenärztin […] Ich habe eine Zyste, deswegen bekomme ich meine Periode nicht, außerdem bin ich
keine Jungfrau mehr...“, sagt sie trocken und kaut genüsslich an ihren Tagliatelle.
Bevor Adem etwas darauf antworten kann, fügt sie hinzu,
„... und bin es nie gewesen.“ […] „Ich gehöre zu den wenigen Frauen, die ohne Hymen geboren werden. Was sagst du dazu?“
„Wow, das ist ja ...Wahnsinn! Ist das wirklich...“
„Ja! Ich habe mein ganzes Leben umsonst gewartet! […] Und weißt du was, von jetzt an werde ich mein Leben anders leben!“ (S. 86)
Helen, die nie eine Jungfrau gewesen sein wird; Helen, die ihre Ehe nie vollziehen wird, und die insofern auch immer Jungfrau geblieben sein wird; Helen hat „umsonst gewartet“, hat „umsonst“ darauf „gewartet“, über den „gewissen Punkt“ hinausgehen zu können: der „gewisse Punkt“, der zunächst in Atem beraubender Gleichzeitigkeit als Signifikant für eine ‚Kultur’, für eine ‚kulturelle Identität’ betrachtet wurde, der in weiterer Folge seine Beweiskraft, seine jegliche differierende Bewegung überwältigende Eindeutigkeit verloren hat, indem er im Laufe der diskontinuierlichen Geschichte eines Grundsatzes an verschiedenen Stellen festgestellt wurde und unterschiedliche Standpunkte markiert hat, dieser „gewisse Punkt“ glänzt nun durch Abwesenheit. Er glänzt durch eine Abwesenheit hindurch, die nicht rein, die vielmehr fadenscheinig ist, die durchkreuzt wird von den Wegen, die wir, den Spuren des „gewissen Punktes“ folgend, zurückgelegt haben. Der Grundsatz, als Jungfrau in die Ehe zu gehen, erweist sich als bodenlos – er ist nicht bodenlos, da ihm, wie wir am ‚Ende der Geschichte’ gesehen haben, jegliche Grundlage, jegliche referentielle Rückbindung ans Reale fehlt: diese Art der Bodenlosigkeit würde ihm, diesem Grundsatz, als bedeutungsvolle, kulturelle und/ oder genderspezifische Bedeutung induzierende Konstruktion wiederum jene Essenz verleihen, mit der er sich, im Namen kultureller, nationaler oder geschlechtlicher Identitäten, in un-bedingte Beispiel-Haft nehmen ließe und mit der sich andererseits seine Artikulation als Ausdruck jenes Mangels erwiese, welcher der anderen Einen, der türkischen Frau, von allem Anfang an anhaftet. Bodenlos ist der Grundsatz also nicht im Hinblick auf seine Grundlosigkeit, unter den Vorzeichen einer negativen Ontologie, sondern hinsichtlich der Streuung, der Dissemination seiner Bezugs-, seiner Referenzpunkte. Die Doppel- und Mehrbödigkeit des Grundsatzes ist nicht reduzierbar: sie kann weder auf den Ursprung ihrer Ontogenese zurückgeführt, noch im kontinuierlichen, akkumulativen Zeitstrom der Universal-Geschichte aufgelöst, analysiert werden.
Auf den Spuren der Protagonistin von Seher Çakir haben uns die Spuren des „rötesten aller roten Lippenstifte“ nicht zur ‚jungen Frau’ an sich geführt, sie haben uns keinen Überblick verschafft über die Adoleszenz als Transit-Raum schlechthin; die im eigenen Namen erfolgte Namensgebung hat uns nicht zurückgeführt auf eine ‚österreichische’, oder ‚griechische’ oder ‚türkische’ oder ‚hybride’ Identität; wir sind keiner ‚türkischen Frau’ auf der Fährte gewesen; die Grundsätze, denen wir nachgegangen sind, haben uns nicht restlos aufgeklärt über ‚die türkische’ oder ‚die muslimische’ Kultur. Uns ist bei diesem Spuren Lesen keine Repräsentation gelungen, wir konnten die Protagonistin nicht festlegen, nicht einmal auf ihren Namen und die Eigenheit der Namensgebung. Es ist HelenA, HelenA, von der wir nicht alles zu hören bekommen, HelenA, die sich mit großem A am Ende schreibt, die sich eingefunden hat im Zuge dieser Spurensuche. HelenA trägt all diese Züge, HelenA trägt die Züge Hülyas, Helenas, der Schönen, Helens; HelenA trägt die Züge einer „Burjava“ ebenso wie die einer Bourgeoise; HelenA trägt die Züge der jungen Frau, HelenA trägt die Züge der türkischen Frau, HelenA trägt die Züge der Jungfrau, der Ehefrau, sie trägt die Züge der Begehrenden, der Begehrten; der Sprechenden, der Schweigenden. Aber HelenA ist keine von all diesen, von all jenen; HelenA gibt es nicht. Ihre Haut ist weiß, noch unbeschrieben; ihre Haut ist schwarz, immer schon beschrieben; Palimpsest der Fülle, Palimpsest der Leere. Wir sind die Gäste HelenAs, sie hat uns vorgestellt, sie hat uns uns vorgestellt, uns, auf den Spuren kultureller Differenz.
IV. Zusammenfassungen
Das Territorium Helen // Kind // Frau konnte ebenso wenig erschlossen werden, wie eine grundsätzliche, das heißt eine auf allgemeinen Grundsätzen basierende Gegensätzlichkeit zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen dem Türkisch-Muslimischem und dem Österreichisch-Christlichem: das andere Eine hat sich im Zuge der Suche nach Indizien für kulturelle Differenzen, im Zuge dieser sedimentierenden Konstitution von Identität, von Identitäten immer wieder neu identifiziert, immer wieder übersetzt in seine Einmaligkeit und dadurch den gleichförmigen, homogenen Prozess der, einer Identitätskonstituierung aus den Angeln gehoben.
Kulturelle Differenz darf nicht als das freie Spiel von Polaritäten und Pluralitäten in der homogenen leeren Zeit der nationalen Gemeinschaft verstanden werden. Als eine Form der Einschreibung hat kulturelle Differenz an den Gesetzmäßigkeiten der supplementären Subversion teil, die den Strategien des Minoritätendiskurses ähnelt.[7]
Jeder Versuch, die Spuren Helens festzustellen als Merkmal einer Kultur oder als Dokument kultureller Differenz, lässt die gegensätzlichen Grundsätze, die grundsätzlichen Gegensätze ihre syntagmatische, ihre überzeitliche Fassung verlieren. Helen, identifiziert mit Hülya, Helen, identifiziert mit einer, mit der christlich-abendländischen Tradition wird gerade durch Hülya und durch die schöne Helena in ihrem Identifikationsprozess unterlaufen: Hülya oder die schöne Helena ersetzen Helen nicht, sie setzen Helen zu, sie setzen sich hinzu, ohne im Namen einer Bringschuld – gegenüber der ‚neuen, der anderen ‚ Kultur, gegenüber dem Universellen ‚gemeinsamer Wurzeln’ – zu ergänzen, zu vervollständigen. Sie, Hülya und die schöne Helena, sind mit im Spiel, wenn von Helen die Rede ist, sie sind ebenso mit im Spiel wie der „röteste aller roten Lippenstifte“, die Burjuva-Bourgeoise, die gescheiterte gelungene Liebe zu Adem, das unzerstörbare fehlende Hymen, die vollzogene unvollziehbare Ehe. Diese Aspekte, welche die Spuren tragen, denen wir nachgegangen sind, sind nicht festgeschrieben im Haushaltsbuch der Ähnlichkeits- und Äquivalenzverhältnisse, und sie schreiben ihrerseits nicht fest. Der Akt der Einschreibung, der sie voraussetzt und ihnen gleichzeitig nicht ganz nachkommt, zeigt sie als Supplement der jeweiligen Identität, zu deren Konstitution sie beitragen, sie aber nicht ausmachen – im doppelten Sinne des Wortes: es liegt nicht an ihnen, den Prozess der Konstitution einer, der Identität abzuschließen und das bis zu diesem „gewissen Punkt“ Konstituierte in das Eine oder das andere Eine oder auch ins Zwischen einzuschließen. Helen kann auch nicht festgeschrieben werden als eine Identität zwischen den Kulturen[8], also zwischen zwei Entitäten. In Zwischen ist nicht der Ort, an dem Unentschiedenheit ihrerseits festgestellt, Widersprüche und Widerspenstiges festgeschrieben werden: in Zwischen ist der Ort der Fusion, der Diffusion und Konfusion von Grund- und Gegensätzen, von Grundsätzen in ihrer Gegensätzlichkeit und von Gegensätzen in ihrer Grundsätzlichkeit.
Heterogenität ist keine Gegebenheit, sondern basiert auf Interaktion, Kontestation und der Möglichkeit einer Konfrontation.[9]
‚Heterogenität’, ‚Alterität’, ‚Fremdheit’ in und von Texten sind nicht als Werte-an-sich zu betrachteten, die zu Deckmäntelchen verwoben zum wiederum auf das Eine (dieses Mal eben auf das andere Eine) hinauslaufenden Gegenzug kommen. Die „Bühne“[10], welche der kulturellen Differenz im Zuge, also in der Bewegung der Übersetzung geboten wird, ist nicht Schauplatz einer Reihe von Kulturen, National-Literaturen und Sprachräumen, welche abwechselnd, sich gegenseitig das vereinbarte Stichwort liefernd, sprechen, um sich ihrer jeweiligen Grundsätze und Gegensätze zu vergewissern. „Schreiben außerhalb der Nation“ (Seyhan), „Schreiben zwischen den Kulturen“ (exil literaturpreis) heißt eben nicht, sich in einem ‚Außen’ oder ‚Außerhalb’, sich in einem Zwischen-Raum einzuschließen, sondern an den Rändern der Wir-Sie-Tektoniken zu feilen, zu säumen, zu streuen und zerstreuen.
Seher Çakir, die, wie gesagt, ihre Literatur nicht in einer aus einer Schublade gezauberten Sonderstellung aufgehoben sehen möchte, hat ihre Protagonistin unserer Spuren-Suche, uns auf diesem Lektüre-Weg preisgegeben. Würden wir Çakir eine Intention unterstellen – etwa jene, dass sie das „Paradigma ‚between two worlds’“[11] sozusagen absichtlich unterlaufen wollte, indem sie uns eine widersprüchliche, weder der einen, noch der anderen einen Kultur eindeutig zuzuordnenden Protagonistin vor Augen führt, – würde Çakir in die Art Beispiel-Haft genommen werden, der sich HelenA, die die Züge Helens, Hülyas trägt, entzogen hat, indem sie uns uns – uns, auf dieser Spuren-Suche – vorgestellt hat.
V. Epilog
Da stehen wir nun, hier, an dieser Stelle, erschöpft – erschöpft angesichts HelenAs, HelenAs, von der wir nicht alles zu hören bekommen haben, HelenA, die sich, am Ende, mit großem A schreibt; erschöpft auch angesichts der weiteren Etappen, die uns HelenA vorausgesetzt hat, ohne sie bereits artikuliert zu haben. Vielleicht klingen sie, diese weiteren Etappen, so, so in etwa:
Es reicht nicht, sich einfach der semiotischen Systeme bewusst zu werden, die kulturelle Zeichen und deren Dissemination erzeugen. Viel bedeutsamer ist, dass wir aus der Präsenz eines spezifischen Aktes kultureller Performanz die Spuren all jener Diskurse und Institutionen, die Wissen verwalten, aus verschiedenen Disziplinen herauslesen müssen, welche die Lage[n] und die Kontexte der Kultur bestimmen. [12]
HelenA lächelt. HelenA zeigt sich nachsichtig angesichts unserer Erschöpfung, angesichts dieser allgemeinen, so erschöpften Fassung eines weiteren Vorhabens, das Spuren unseres, des an dieser Stelle nun zurückgelegten Weges trägt. HelenA lächelt. Nein, wir haben sie nicht ganz erfasst. Wir, wir haben HelenA nicht erschöpft in und mit unseren Ausführungen.
[1] Vgl. Çakir, Seher: „Migrantenliteratur“. Vorwort. In: Stippinger, Christa (Hg.): passwort. anthologie. das buch zu den exil-literaturpreisen „schreiben zwischen den kulturen“ 2007, Wien: edition exil 2007
[2] Cakir, Seher: Helen und ihre Haut. In: Cakir, Seher: zitronenkuchen für die sechsundfünfzigste frau. Wien: edition exil 2009. S. 77. [in weiterer Folge werden die Zitat aus diesem Text nur noch mit Seitenangaben versehen].
[3] De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns. Übers. Vouillé, Ronald. Berlin: Merve 1988, S. 23
[4] Bhabha, Homi K: DissemiNation: Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation. In: Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Übers. Freudl, Jürgen und Schiffmann, Michael, Tübingen: Stauffenburg, 2007, S. 207-255, hier S. 243
[5] Derrida, Jacques: La Dissémination. Paris: Éditions du Seuil 1972, p. 258.
[6] Derrida, p. 261
[7] Bhabha, Homi K: DissemiNation: Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation. In: Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Übers. Freudl, Jürgen und Schiffmann, Michael, Tübingen: Stauffenburg, 2007, S. 207-255, hier S. 241
[8] zur Aufgabe des „Paradigmas ‚between two worlds’“ vgl. Vlasta, Sandra: Das Ende des ‚Dazwischen’ – Ausbildung von Identitäten in Texten von Imran Ayata, Yadé Kara und Deridum Zaimoglu. In: Schmitz, Helmut (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Litertaur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam: Rodopi 2009, S. 101-116.
[9] vgl. Seyhan, Azade: Writing Outside the Nation. Princeton, New York: Princeton University Press 2001.
[10] Birgit Wagner liest Homi Bhabhas Konzept der „kulturellen Übersetzung“ sehr sorgfältig und betont die theoretische Kraft der kulturellen Übersetzung vor allem im Hinblick eines „staging the differences“. Wagner bietet eine vom Englischen ins Deutsche übersetzende Paraphrase dieses Aspektes der „kulturellen Übersetzung“ an, die ich als sehr fruchtbar betrachte und die m.E. über die Wiedergabe der Denkbewegung Bhabhas in der deutschen Ausgabe seiner Location of Culture hinausgeht: „…der kulturellen Differenz eine Bühne zu bieten, heißt sie in ihrer Fremdheit äußerst sichtbar zu machen und sie durch diese Sichtbarkeit der Intelligibilität und Übersetzbarkeit zumindest anzunähern. Dass dabei ein >Rest< bleibt, der sich der Verständlichkeit entzieht, macht das Unheimliche dieses Prozesses aus.“ Wagner, Birgit: Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept. In: Kakanien Revisited 23.07.2009, S. 6 http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2/ (zuletzt eingesehen am 08.04.2011)
[11] Vlasta, S. 103.
[12] Bhabha, Homi K: DissemiNation: Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation. In: Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Übers. Freudl, Jürgen und Schiffmann, Michael, Tübingen: Stauffenburg, 2007, S. 207-255, hier S. 242