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Engel des Vergessens

Rezension von Martina Wunderer

„Čudno, čudno, was Menschen widerfahren kann.“

„Čudno, čudno, sagt Großmutter und meint wieder furchtbar, wenn sie sonderbar sagt.“

 

Es ist der Stoff, aus dem die großen Werke der Weltliteratur gestrickt sind, den Maja Haderlap in ihrem ersten Roman Engel des Vergessens verhandelt. Und doch schreibt sie keine große Erzählung, sondern zeigt am Beispiel ihrer vom Leiden der slowenischen Minderheit in Kärnten geprägten Familiengeschichte, wie politische Verhältnisse auf das private, persönliche Leben wirken können. In Klagenfurt hat sie dafür den Ingeborg-Bachmann-Preis bekommen. Haderlap habe der Geschichte der Kärntner Partisanen eine Stimme gegeben, begründete Jurorin Daniela Strigl, die sie für den Wettbewerb vorgeschlagen hatte, ihre Wahl. Sie schreibe darüber „bedächtig, mit großer Genauigkeit und ohne Hass“.

„Das sind Geschichten, die mich mein ganzes Leben begleitet haben“, sagte die Preisrägerin in einer ersten Reaktion. Die 1961 in der Südkärntner Gemeinde Bad Eisenkappel/Želesna kapla geborene Autorin, die bisher mit Lyrik in slowenischer Sprache in Erscheinung getreten ist, hat für ihren ersten Prosatext die deutsche Sprache gewählt, diese habe ihr einen gewissen Schutz gewährt, der es ihr möglich machte, den zur Aufzeichnung drängenden Stoff zu gestalten.

Erinnert wird eine Kindheit in den Kärntner Bergen, der Geruch nach Geselchtem und frischgebackenem Brot, der saure Dunst der Essensabfälle für die Schweine, die Mehlsäcke, Truhen und Holzkübel, der Bienenstock und der Hühnerstall, die Stimme der Großmutter, die erzählt, „für wie viele Menschen sie schon gekocht hat, damals zu Hause, als es noch Knechte und Mägde gab und sehr viele Kinder.“ Doch schon stört ein erster Missklang die Schilderung des bäuerlichen Idylls: „Sie sagt, sie habe auch Essen gestohlen für sich und die anderen, sie habe nach jeder Kartoffelschale gesucht, nach allem, was essbar schien, damals, als sie die Kessel gewaschen hat, das war noch ein Glück, sagt sie, dass sie dahin gekommen sei, in die Küche, im Lager“. Zwanzig Seiten später fällt erstmals der Name, Ravensbrück. Mauthausen. Natzweiler. Dachau. Die Namen der Vernichtungs- und Konzentrationslager. „Sie sei gerettet worden“, sagt die Großmutter, aber „ob sie deswegen gerne lebe, wisse sie nicht.“ „Ich erzähle die Erzählungen der anderen“, sagt Haderlap, Erzählungen aus zweiter Hand, von Krieg und Verfolgung, von Hunger und Angst. Die autobiographische Spurensuche umfasst drei Zeitebenen: die Zeit des Partisanenkampfs während des Zweiten Weltkrieges, die Kindheit und Jugend der Ich-Erzählerin in den 60er und 70er Jahren und die in der Gegenwart zu verortende Ebene des Erzählens. Als Erzählzeit wählt Haderlap durchgehend das Präsens, ein Stilmittel, das die Unmittelbarkeit der Aussagen und ihre Nähe zur Gegenwart suggeriert. Die Auswirkungen der Erfahrung von Verfolgung und Internierung während der NS-Zeit prägen bis heute das Leben der Kärntner Slowenen, und sie geben die erlittenen Traumatisierungen bewusst und unbewusst an ihre Kinder und Kindeskinder weiter. „Das Kind begreift, dass es die Vergangenheit ist, mit der es rechnen muss. [...] Noch ist die Kindheit wie selbstverständlich auf das Kommende gerichtet, aber auf dem Boden des Vergangenen erweist sich die Zukunft als Leichtgewicht. Was soll sie schon bringen, wohin wird sie führen? Reicht es nicht, wenn es zum Leben reicht, denkt Vater, denkt manchmal das Kind.“ Der Vater leidet an Schlafstörungen und diffusen Kopf- und Magenschmerzen, er zieht sich zunehmend aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, und flüchtet sich in den Alkoholismus, wenn das Schuldgefühl, überlebt zu haben, zu groß wird. Mit dem Kälberstrick in der Hand sitzt er in der Küche und denkt laut über Selbstmord nach. Das Kind wacht erschrocken über ihn, es sieht es als seine Aufgabe, seine Leiden zu lindern, den Vater zu retten. Mit seinen zwölf Jahren war er damals der jüngste Partisan. Das Kind weiß nicht, was ein Partisan ist, es muss die Mutter fragen. „Die Partisanen haben in Erdbunkern gelebt und sich vor den Deutschen versteckt, antwortet sie. Das sei lange her und müsse mich nicht beschäftigen.“ Doch sie kann nichts ausrichten gegen den Krieg, der die Großmutter und den Vater gefangen hält „mit seinen Todesscherben, mit seinem Gedächtnisplunder.“

„In der Nacht schrecke er manchmal auf und wisse nicht, wo er sei. Im Traum renne ich um mein Leben wie damals auf der Verlika planina“, sagt der Vater. Er ist nie wirklich zurückgekommen aus dem Wald. Seine Erzählungen kreisen um ihn, „wie auch der Wald um unseren Hof kreist“. Er hält die Gedanken der Männer besetzt, ist Zufluchtsort und dunkle Bedrohung zugleich. „In den Wald zu gehen bedeutet in unserer Sprache nicht nur Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln. Es heißt auch, wie immer erzählt wird, sich zu verstecken, zu flüchten, aus dem Hinterhalt anzugreifen.“

Jahre später wird die Erzählerin in den Wald zurückkehren. Gegen den Widerstand des Vaters war sie von der Mutter ins Internat nach Klagenfurt geschickt worden, um ihr eine höhere Schulbildung zu ermöglichen, nach der Matura war sie nach Wien gegangen und hatte an der Universität Theaterwissenschaften studiert. Hier hatte sie begonnen, in öffentlichen Zusammenhängen zu denken, die Hilferufe des Vaters als gesellschaftliche, als politische zu begreifen. Mit dieser Erkenntnis kehrt sie in ihren Heimatort zurück, beginnt, Fragen nach der Vergangenheit zu stellen, die Orte des Kriegsgeschehens zu begehen, die Aufzeichnungen der Großmutter zu lesen. Bei ihrem Versuch, die zu Bruchstücken zerfallene Geschichte zu ordnen, die Vergangenheit ihrer Familie zu erfassen und für sich selbst passend zu machen, stößt sie jedoch immer wieder auf die Unmöglichkeit, Erinnern von Erzählen, Wirklichkeit von Fiktion zu trennen. Das Gehörte lässt ihr keine Ruhe, „unentwegt kreise ich um den historischen Schlund, in dem alles untergegangen scheint“. Um nicht gänzlich vom Vergangenen überrollt zu werden, beschließt sie, „das Versprengte, Erinnerte und das Erzählte, das Anwesende und Abwesende in eine geschriebene Form zu bringen, mich aus dem Gedächtnis neu zu entwerfen, mir einen Körper zu erschreiben, der aus Luft und Anschauung, aus Düften und Gerüchen, aus Stimmen und Geräuschen, aus Vergangenem, Geträumten, aus Spuren zusammengesetzt werden könnte.“

Diese reflexive Durchdringung des eigenen Schreibens durch die erwachsene Frau bildet eine gegenläufige Bewegung zum Wunsch des Kindes, „zurück zu den unvermittelten Dingen“ zu gelangen, „wo sich kein Wort zwischen es und die Welt drängte, wo nichts, was es berührte, sich ihm entzog. Es will die Worte von den Dingen pflücken, den Namen Wiesenschelle von der Wiesenschelle und Taubnessel von der Taubnessel.“ Dieses Changieren zwischen unschuldig kindlicher und kritisch reflexiver Erzählperspektive ist dem fortschreitenden Alter der Ich-Erzählerin geschuldet, die im Nachhinein die zahlreichen Erfahrungen ihrer Kindheit zu rekonstruieren und zu deuten versucht. Sie verknüpft dazu Erinnerung und gegenwärtiges Erleben, genaue Beobachtungen und Traumbilder, was bisweilen aufgrund der Vermischung verschiedner Schreibstile etwas ungelenk wirkt. Der ruhige, rhythmische Sprachduktus und die poetische Bildsprache, die den ersten Teil des Romans auszeichnen und die Jury in Klagenfurt überzeugten, werden zunehmend durch schiefe Metaphern und holprige Abschnitte gestört.

Ausgerechnet der unbedingte Ausdruckswille und das Bemühen um poetische Dichte führen gegen Ende zu einer überbordenden, prätentiösen Bildhaftigkeit, die Walter Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte entlehnt ist: „Der Engel der Geschichte wird über mich geflogen sein. Seine Flügel werden einen Schatten auf das Lagergelände geworfen haben. Ich habe sein entsetztes Antlitz im Halbdunkel nicht sehen können, nur kurz geglaubt, einen Flügelschlag gehört zu haben, einen Windstoß mit seinen Engelsflügeln vernommen zu haben, in denen sich die Stürme des Kommenden verfingen.“ Es sind solche Sätze, die in ihrer intertextuellen Überfrachtung und sprachlichen Überformung beinah selbstgefällig wirken und den Schrecken, von dem sie erzählen wollen, zu übertönen drohen. „Nicht so laut“, möchte man da der Erzählerin mit der Großmutter zurufen, „sonst kann man nichts hören.“

 

Rezension von Maja Haderlap: Engel des Vergessens. Göttingen Wallenstein 2011

 

Martina Wunderer, August 2011