Zwei Brüder und dunkle Familiengeheimnisse – David Albaharis Roman „Der Bruder“ wartet mit skandalöser Gesellschaftskritik und dem Spiel mit dem ewig Ungewissen auf. Schauplatz des Romans ist das real existierende Lokal Brioni im Belgrader Stadtteil Zemun, in dem der Autor geboren ist, jenem an der Donau liegenden Stadtteil Belgrads, der einst idyllisches österreichisches Grenzstädtchen war, und heute touristisch halb verkommt und halb in seiner rauhen Verkommenheit neu aufblüht. Das fiktive Brioni habe, so der Autor in einem Interview, natürlich gar nichts – und alles – mit dem realen zu tun. Es mag verwundern, dass das Lokal nach dem bereits 2008 in Serbien publizierten Kurzroman keinen touristischen Aufschwung erlebte, denn ein morbideres literarisches Denkmal hat wohl noch keine „Kafana“ in Belgrad erhalten.
David Albahari, Autor serbisch-jüdischer Herkunft, 1948 in Peć (Kosovo) geboren und im besagten Zemun aufgewachsen, verließ Serbien in den 1990ern mit einem Autorenstipendium, seit 1994 lebt er in Calgary als Schriftsteller und Übersetzer, kehrt jedoch regelmäßig nach Europa und Serbien zurück, kommt immer wieder also auch im Brioni vorbei. Er gilt heute als renommiertester und meistübersetzter serbischer Gegenwartsautor. Auf Deutsch erscheinen seine Bücher im letzten Jahrzehnt im Verlag Eichborn. Mit „Der Bruder“ hat Schöffling den Autor übernommen. Der Verlag publizierte den Kurzroman in einer Übersetzung von Mirjana und Klaus Wittmann, die alle bisherigen Texte des Autors ins Deutsche übertrugen und 2006 auch mit dem Autor gemeinsam den Brücke Berlin-Preis dafür erhielten.
Struktur und Form des Romans stehen ganz in der Tradition der bisherigen Romane des Autors. Der zum überwiegenden Teil absatzlos bleibende Text ist in zwei Kapitel geteilt, der Autor reiht lange Schachtelsätze aneinander und bietet doppelt- und dreifach gebrochene Perspektiven auf das Erzählte. Einem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, der nur auf seine Zuhörerrolle reduziert wird, wird von der Hauptfigur das Geschehen retrospektiv erzählt. Die Ausgangssituation des Romans ist eine spannungsgeladene: Filip, ein mit sich selbst und seinem Schreiben unzufriedener Gelegenheitsschriftsteller, erhält einen Brief, den er zunächst lange überhaupt nicht zu öffnen wagt. Als er es doch tut, erfährt er, dass er einen Bruder hat, von dem er bislang nichts wusste, der in Argentinien und Australien lebt, jedoch nun zu Besuch kommt um seinen Bruder kennenzulernen. Das hat für Filip leider nicht nur positive Folgen: neben der Freude, einen heimlichen Bruder zu haben, nachdem seine Schwester und auch seine Eltern verstorben sind, bringt ihn diese Tatsache rasch auch an den Rand des Nervenzusammenbruchs: Wenn er einen Bruder hat, so überlegt er, dann stimmt seine Autobiografie über „Das Leben eines Verlierers“, als der er sich aufgrund der vielen Verluste immer betrachtet hatte, nicht mehr, und er wird zum Lügner. So gerät Filips Vorstellung von seiner Identität mit der Kenntnis vom älteren Bruder zunehmend ins Wanken. Immer stärker werdende Angstgefühle machen sich in ihm breit, und das erste Kapitel des Romans darf mit vielen offenen Fragen zu Ende gehen.
Der zweite Teil ist dem Treffen der beiden Brüder gewidmet: in einem ehemals heruntergekommenen, lichtabstinenten Lokal in Belgrad, das heute zu einem feinen, hell ausgeleuchteten Restaurant umgestaltet worden ist, soll das Kennenlernen stattfinden: im Brioni, das einen Namen aus alten Zeiten trägt, als Jugoslawien noch existierte und es normal war, Lokale nach Orten, Landschaften oder - wie in diesem Fall – Inseln anderer Republiken der sozialistischen Föderation zu benennen. Die Brioni-Inseln (im Original Brijuni) bilden eine kleine Inselgruppe in der kroatischen Adria. Zum öffentlichen Nationalpark wurden sie nach dem Tod Titos, der dort in sozialistischer Zeit seine bevorzugte Residenz hatte, hier lud er hohe Staatsgäste und Hollywoodstars ein, oder gründete die Blockfreien Staaten. Auch heute dienen die Inseln dem kroatischen Präsidenten weiterhin als Ort für Staatsempfänge und als Sommerresidenz. Die Spelunke Brioni im Roman von David Albahari könnte in keinem krasserem Gegenteil zu diesen illustren Inseln stehen.
Der Bruder wünscht sich, dass ausgerechnet in der einst heruntergekommenen „Kafana“ ein erstes Treffen stattfinden soll, und Filip ist dies nur recht, weil er sich einen (Heim-)Vorteil von der Finsternis und dem Schmutz des heruntergekommenen Lokals erwartet. Das unerwartete neue Nobelambiente des Lokals trägt dagegen nicht unbedingt zur Stabilisierung seiner seit Erhalt des Briefes ohnehin stark angeschlagenen Psyche bei. Der Bruder selbst noch weniger. Filips Ängste bestätigen sich rasch, nachdem er eine kurze Zuneigung für den Unbekannten verspürt hat: der Mann irritiert ihn, stößt ihn bald sogar ab, ob durch die körperliche Nähe, die er sucht, seine sozialen Ausfälle, wenn er laut zu singen und zu tanzen beginnt, oder auch durch die tragische Geschichte, die er ihm erzählt, und die ihre gemeinsamen Eltern in ein äußerst schlechtes Licht rücken lässt. Robert, der ältere Bruder, wurde, als seine Eltern, die in den Studentenprotesten in den späten 1960ern aktiv waren, und unter der Repression in Jugoslawien litten, für ein Diamantencollier an ein kinderloses, nach Argentinien auswanderndes jüdisches Paar verkauft. Damit nicht genug, empfindet Filip nicht nur zunehmend Abneigung gegen seinen Bruder, sondern auch Neid: als er erfährt, dass dieser bereits zwei umfangreiche Romane und vieles andere publiziert hat, wünscht er ihm – beinahe – den Tod.
Damit nicht genug, folgt bald darauf der große Skandal: Robert erklärt, eigentlich eine Frau zu sein, geht auf die Toilette und kommt in Frauenkleidern zurück. Er stellt fest, er sei gekommen, weil er eine Geschlechtsumwandlung plane, und ihm den letzten Anblick seines Bruders nicht vorenthalten hatte wollen, bevor er nur noch eine Schwester haben würde. Daraufhin bricht ein Tumult im Lokal aus, betrunkene und homophobe Gäste beginnen eine Schlägerei mit dem sich zunächst noch sehr erfolgreich wehrenden Robert, schlagen ihn dann vor dem Lokal zu mehrt jedoch halb zu Tode. Das eigentliche Drama aber setzt erst nach diesem Vorfall ein, den Filip nur stumm zusehend passieren lässt. Anstatt seinen Bruder ins Krankenhaus zu bringen, beginnt ein Spiel auf Zeit gegen oder für den Tod des eigenen Bruders, des in allem so sehr „anderen“, den er nicht akzeptieren kann, den er offensichtlich sowohl begehrt als auch hasst. So ist es nicht nur die intolerante Gesellschaft, die ihren Hass gegen das „Andere“ am ausländischen Transvestiten auslässt. Es ist v.a. der Bruder selbst, der zum mitleidslosen Mitläufer wird – aus Neid, Angst, Gleichgültigkeit, Intoleranz.
Albahari verwebt mühelos mehrere Themen und Motive in seinem Roman. Geschlechts- und Identitätswechsel werden in mehreren Variationen anhand der Figuren durchexerziert, der Untergang des alten Jugoslawien fast beiläufig mitskizziert, traditionelle Familienstrukturen wie auch traditionelle Konzepte von Literatur hinterfragt oder gar gänzlich zerstört, und nicht zuletzt künstlerisches Schaffen überhaupt in Frage gestellt – letzteres etwa in einer in Gedanken geführten Kontroverse mit der „Poetik“ von Aristoteles, die angesichts ihrer Inkompatibilität mit der Realität der (gegenwärtigen) Welt polemisch verworfen wird. Diese Themen in dem kurzen Roman auf grotesk-unterhaltsame Art unterzubringen, gelingt Albahari durch die Form der ständigen Distanzierung vom Erzählten, das oft aus zweiter oder dritter Hand stammt oder im Konjunktiv wiedergegeben wird. Die andauernde Irritation, die man beim Lesen mit der Hauptfigur teilt, resultiert gerade aus dieser Relativierungstaktik. Die manischen Variationen gleicher Szenen und abschweifender Gedankengänge, der Fokus auf scheinbar unwichtige Details, und die vielen Konjunktive, die die Paranoia der Hauptfigur ausstellen – diese Techniken des Verunsicherns beherrscht der Autor virtuos.
Die vom Autor für viele seiner Texte gewählte Form funktioniert ausgezeichnet, denn sie erlaubt es, Spannung aufrechtzuerhalten und zudem auf unterhaltsam-groteske Art psychisch belastende Themen in irritierenden „Loops“ zu erzählen. Es ist daher ein besonderes Vergnügen, eine vom Autor ständig wieder an die Spitze getrieben Form mit gesellschaftskritischen Fragen und Nonsens-Denk-Einbahnen vorgeführt zu bekommen. Es bleibt dem Verlag dafür zu danken, dass er sich entschied, Albahari in sein Programm aufzunehmen, und zwar mit einem mittlerweile fünf Jahre alten Buch, das natürlich nichts von seiner Aktualität, und noch weniger von seiner grotesken und subversiven Schönheit eingebüßt hat.
Wien, 02.04.2013
Rezension von: David Albahari: Der Bruder, Frankfurt/Main: Schöffling, 2012
Verfasst von Elena Messner