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Familienbande... Dragana Mladenović: Rodbina / Verwandschaft

Rezension von Eva Schörkhuber

 

In ihre Familienbande sind sie verstrickt, die beiden Stimmen, die in Dragana Mladenović’ Rodbina / Verwandtschaft – nein, eben nicht die zwei Seiten der Geschichte eines Krieges verkörpern, sondern die Familienähnlichkeiten dieser Seiten anspielen, ihre Verwandtschaft anklingen lassen: Mladenović’ lyrischer Text, ins Deutsche übersetzt von Jelena Dabić und erschienen in der Edition Korrespondenzen, gliedert sich in drei Teile, die Zeitabschnitte nach 1999, nach den NATO-Bombenangriffen auf Belgrad, durchqueren. Die Mitglieder der beiden Familien sind gezeichnet von den Jugoslawien-Kriegen, sie werden nachgezeichnet von den beiden Stimmen, die ‚ich’ sagen und die mit ihren Familiengeschichten im von einem diffusen, sich in Wahrheitssplittern brechenden Licht beleuchteten Nachkriegsraum angesiedelt sind. Die Konturen, die die Familienmitglieder dabei erhalten, bilden die Rahmen für Verwandtschaftsbeziehungen über die einzelnen, zerschlagenen und zusammengeflickten Familienbande hinweg, Rahmen für ein schwieriges gemeinsames Erbe, für gemeinsame Nachkommen, ein gemeinsames Nachkommen.

 
Unter dem serbischen Dach. Unter dem bosnischen Dach. Ein Protokoll zwischendurch

mila und sara, die Schwestern, sie wohnen mit Mutter, Vater, opa stanko, der verstorbenen oma (= opa stanko, transvetiert), onkel grischka und tiodor unter einem Dach, dem serbischen Dach. Unter dem anderen, dem bosnischen Dach in Amsterdam lebt die Nichte zusammen mit ihrer Tante, die auf Besuch ist, um einem Gerichtsprozess beizuwohnen, in dem es um Kriegsverbrechen geht. Zwischen diesen Familienbanden, die im ersten und dritten Teil nachgezeichnet werden, liegt das Protokoll der Aussage von nikola živorad n žurić – „spitzname: žura // žura: der stumme // der stumme: spät zu reden angefangen“ –, der den general tiodor unter dem Dach eines bestimmten Hauses gesehen hat, gesehen haben will. Er habe ihn nur gesehen haben wollen, wird ihm nahe gelegt, und dieses Wollen ist täuschend, es täuscht über Verhältnisse hinweg, über die er, nikola živorad n žurić, Empfänger einer kleinen Pension und Vater eines vorbestraften Sohnes, sich nicht hinwegsetzen kann.


wie viel: was wie viel // stell dich nicht dumm: ich bin dumm // hundert zweihundert tausend: ich bin nicht darum gekommen // warum bist du gekommen: um es zu sagen // warte mal bist du stumm // oder blöd: habe spät angefangen zu reden // das heißt du bist blöd: vielleicht // vielleicht: ich möchte gehen // ich frage dich zum letzten mal // hast du jemand gesehen: ich habe es schon gesagt // den tiodor: den general // und was jetzt: ich möchte nach hause // gehen sie: danke // vorsichtig: gute nacht // seitens eines vma-arztes // wurde bei živorad n žurić // paranoia // diagnostiziert // in der anlage // entsprechend // ist die aussage von zivorad n zuric // mit vorbehalt zu sehen // protokoll erstellt von: leutnant voja ristić // unterschrift: vojaristić (S. 87)


 Ein onkel voja brachte tiodor unter das serbische Dach, „weil er ein serbe war“, tiodor, der „serbe“, der „gast“, der Tagebuch schreibt und selten ausgeht. Und onkel voja taucht wieder auf unter dem serbischen Dach, „ganz plötzlich // eines abends“, „rasend wie ein stier“ und er möchte wissen, ob „ich heute // mit jemandem gesprochen hätte“ (S. 51). „ich“, das sind die Schwestern, mila und sara, wobei es vorwiegend mila ist, die sich unter dem serbischen Dach in der ersten Person zeigt. Manchmal kleidet sara mila in die dritte Person, vor allem gegen Ende, wenn Nachwuchs ins Haus steht.

 mila, zu Beginn –  ich habe noch nie // mit einem mann geschlafen // war noch nie ausgelassen // oder betrunken // und dann ist tiodor gekommen (S. 17)

sara, am Ende – am morgen // war nur mila // wach // ich kroch // zu ihr // unter die decke // sie sagte // fühl mal sara // fühl mal // ihre arme sind dünn // der kleine bauch heiß // spürst du’s // es bewegt sich // ich spürte // dass es kratzt // von innen (S. 69)

Unter dem bosnischen Dach die tante, sie ist nach Amsterdam gekommen, „steinern schwer // fern // sie ist gekommen und hat den geruch // von balkan von unglück mitgebracht“ (S. 91). Die tante, die nichts braucht, die nur „den verbrecher sehen muss“ (S. 91), wie er vor Gericht steht, und der „geruch“, sie breiten sich aus unter dem bosnischen Dach, unter dem „ich“, mit keinem Namen versehen, manchmal die Couch auch mit denis teilt.


das sofa von tanua // für denis und mich // richten wir für die tante // ich ziehe es aus // sie breitet das laken // ich streiche es glatt // sie überzieht die decke // legt sich hin // steinern sind die decke die wolke // der schlaf (S.103)

 

Die tante taucht auf unter dem bosnischen Dach und breitet sich aus. Wie ein „geruch“ durchziehen die Gegenwart und mit ihr die Vergangenheit der tante das Exil-Leben der Nichte. Was die Nichte über die tante weiß entspringt einerseits Familiengossip – „schon damals // im neuen auto // sprach die mutter // so schlecht von ihr // sie sei eingebildet // habe die gearbeitet // eine prinzessin“ (S. 99). Andererseits sind es Tatsachen, an denen sich das Leben, die Gegenwart der tante festhalten lassen: im Krieg hat sie ihren Ehemann und ihren Sohn verloren – sie hat sie verloren? Die Mutter schreibt

 

am tod meines bruders // ist sie schuld // und am tod ihres sohnes // […] dabei haben wir ihr gesagt // komm zu uns bis es vorbei ist // und sie eingeladen immer wieder eingeladen (S. 95)

 

Die Nichte teilt ihr Leben mit der tante und die tante teilt ihr Leben der Nichte mit. Stückweise. Bruchstücke und Auszüge, welche die eine und die andere entgleisen lassen. Ein tiodor spielt in der Geschichte der tante eine Rolle, eine entscheidende. An ihn, diesen tiodor, wendet sich die tante, um für ihren Sohn und ihren Mann zu bitten. An einer „Wand“ (S. 135) bricht sich diese Erzählung der tante –

 

frag nicht // was dann passiert ist // welche erniedrigung // welcher schmerz // frag nicht // wie ich es bis nach hause geschafft // und was ich dann gemacht habe // worüber nachgedacht // mit der wand gesprochen // fiebernd unten blutig // frag nicht (S. 135)

 

– der tante, die ihren Ehemann und ihren Sohn verloren hat im Krieg und die ihren Sohn mitbringen will, das nächste Mal, nach Amsterdam, „wenn sie tiodor geschnappt haben“ (S. 141). Einklammern der, in der Familiengeschichte: „(ihr sohn ist tot // ist sie wahnsinnig?)“. Und Klammern, die sich lösen, durch eine so einfache Frage, durch ein so schwieriges Nachfragen: „was für einen sohn // tante was für einen sohn“ (S. 141) Ihren Sohn möchte sie mitbringen, das nächste Mal nach Amsterdam, damit er seinen Vater sehe, „den verbrecher // damit er ihn lange anschauen kann“ (S. 141)

 
Über die Familienbande spielen

Unter dem serbischen Dach und unter dem bosnischen Dach ein Nachkomme tiodors, ein Nachkommen des „gastes“, des „verbrechers“. Ein Verwandtschaftsverhältnis, das alle Verhältnisse, alles Verhältnismäßige übersteigt. Ein Nachkomme, dem niemand, kein Mitglied dieser Familien, nachkommen kann. mila, die „kranke“, die „schwache“, die sich nicht „lächerlich machen“ soll, indem sie sagt, sie sei schwanger (S. 59, 61); die tante, die „prinzessin“, die ihren Sohn, ihren Mann verloren hat und („ist sie wahnsinnig“) ihrem Sohn den Vater vor Gericht zeigen möchte. An mila hat er sich vergangen, tiodor, der „gast“ – Unschuld verloren. An der tante hat er sich vergangen, tiodor, der „verbrecher“ – Vergewaltigung. Zwei Vergangenheiten, die so weit auseinander liegen, die sprachlos machen, jede auf ihre Art. Unvergleichbar. Und eine Vergangenheit, die einen Namen hat und zwei Gesichter. Das Gesicht des „gastes“, das Gesicht des „verbrechers“. Gibt es eine Sprache, um diese Vergangenheit zu benennen, um sich darüber zu verständigen, dass diese zwei Gesichter denselben Namen tragen?

mila, die „kranke“, die „schwache“ und die tante, wahnsinnig? – beide haben in ihren Familien wenig zu sagen, zum Verlauf der Familiengeschichten wenig beizutragen. Und beide beginnen zu sprechen, mit ihrer Stimme den durch den Krieg, mit den Kriegen geregelten Verlauf dieser Geschichte über die Bande, die Familienbande zu spielen. Ein anderer Blickwinkel auf das familiäre Verhältnis. mila, begleitet von saras Stimme, artikuliert die grotesken Verhältnisse unter dem serbischen Dach. Sie findet auch Worte für onkel voja –

 

onkel voja ist ein jähzorniger mensch // so // besessen // von heldentum und heimat // dass er alle // stumpfen gegenstände schleift //um für die große schlacht // bereit zu sein (S. 53)

 

– Worte, so präzise, dass sich mit ihnen Familienbande durchtrennen lassen. Wer spricht schon so über den Onkel?
Die tante spricht mit der Nichte, die fragt, nachfragt: sie lässt die tante nicht einfach stehen in dieser verstörend verrückten Aussage ihren Sohn das nächste Mal mitbringen zu wollen, sie berichtet nicht einfach über den Kopf der tante hinweg, diese sei wahnsinnig. Fragen, Nachfragen, nicht einfach dem in Familienbanden gewobenen Gossip nachkommen. Wer will schon etwas wissen von diesem Nachkommen? Von diesem Erbe?

 

Wahrheitssplitter
 

Wenn unter dem serbischen und unter dem bosnischen Dach über die Familienbande gespielt wird, ändern sich die Geschichten, sie beginnen abzuweichen von dem, was sich überliefert hat, was überliefert wurde mit der Zeit, mit den verheerenden Zeiten. Beide Stimmen suchen das Weite, jede auf ihre Art – 


ich heiße mila // ich bin 30 jahre alt // bald werde ich die wohnung verlassen (S. 65)

 vom vater her ein verbrecher // von der mutter her ein opfer // oh wie ich den balkan // satt habe // die auseinandersetzungen // das leugnen // die kriege und friedensschlüsse // ich studiere die landkarte // noch wie viele kilometer // new york // sumatra // china // flüchten // weit weg // wie weit noch // es verfolgt mich (S. 139)

 

– und beide kommen nicht weit, nicht weit genug: ein Nachkomme („es kratzt von innen“); ein Nachkommen (mitgebracht wurde er, der „geruch von balkan von unglück“).
Es ist keine Parallelführung der Geschichten, der serbischen, der bosnischen, die in Dragana Mladenović’ Verwandtschaft stattfindet. Und es ist kein Vergleich zwischen einem unter dem bosnischen und einem unter dem serbischen Dach beheimateten Schicksal, der unternommen wird. Familienähnlichkeiten sind es, die sich abzeichnen bei den Versuchen, die Vergangenheit zu benennen und sich darüber zu verständigen, dass ihre zwei Gesichter einen Namen tragen. Das Protokoll, das die Geschichten scheidet, das über ‚Geschichte’ entscheidet, bringt nicht eine, nicht die Wahrheit ans Licht, sondern lässt Wahrheitssplitter ins Auge stechen, jene Wahrheitssplitter, in denen sich das Licht bricht, unter welchem die Tatsachen, die Kriegs- und Nachkriegsereignisse, betrachtet werden.

onkel voja könnte der das Protokoll führende voja ristić sein; die Zuweisungen von Glaubwürdigkeit und Unzurechnungsfähigkeit, von Schuld und Unschuld (des Zeugen živorad n žurić, aber auch der Zeugin tante, die in den einen Augen Schuld hat an dem Verlust ihres Sohnes und ihres Mannes, die in anderen Augen ‚einfach’ eines der zahl- und namenlosen Opfer des Gewaltkonglomerates ‚Krieg’ ist, sind nicht ‚der Wahrheit’ entsprechend, sondern bestimmten Interessen folgend ausgestellt worden; die durch tiodor, den „gast“, den „verbrecher“, markierte direkte Verwandtschaft zwischen den beiden Stimmen, der von mila/sara und jener der Nichte, hat ihren Platz nicht in einer traditionellen Familienchronik.

Diese Vermutungen, Verdachtsmomente und Feststellungen, sie legen sich auf eine Art und Weise nahe, in welcher sie als Splitter einer Wahrheit (einer Geschichts-, Rechts-, Familienwahrheit) wahrgenommen werden können. Das Licht, in welches der Nachkriegsraum, in dem unter serbischen und bosnischen Dächern Familiengeschichten angesiedelt sind, gerückt wird, gerückt werden kann – dieses Licht bricht sich in Wahrheitssplittern, ähnlich jenen, wie sie in der Verwandtschaft verdichtet werden.

 

 

Rezension von Dragana Mladenović: Verwandtschaft/ Rodbina. Aus dem Serbischen von Jelena Dabić. Wien: Edition Korrespondenzen 2011 (Zweisprachige Ausgabe)

 

Eva Schörkhuber, August 2011