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Göttlicher Gestank

Gespräch von Beatrice Simonsen mit dem serbisch-ungarischen Autor Ottó Tolnai

Stellt man Ottó Tolnai eine Frage, antwortet er mit einer Geschichte – es können aber auch mehrere sein. In seiner Heimat, der Vojvodina, gilt er als „Orpheus vom Lande“ in Titel, den auch die Hauptfigur seiner „Wilhelm Lieder“ [Wilhelm-dalok, 1992] trägt. Tolnais Sehnsucht nach Ferne manifestiert sich in der Identifikation mit jemand, der aus der Realität herausgerückt ist, dessen Wahrnehmung ver-rückt ist. Verrückt ist im Ungarischen jemand, der „halbe Lieder singt“ und das nimmt Ottó Tolnai wörtlich, weshalb er für seinen Dorfnarren Wilhelm einen eigenen Rhythmus, eine eigene Sprachwelt erfand. Was sich einprägt, sind bizarre Bilder, Splitter wiederkehrender Assoziationen. Vor den Hintergrund schimmernder Landschaften streut er Namen von Orten und Menschen: Belgrad, Venedig und Uppsala führt er ebenso leichthändig zusammen wie Jean Gabin, Anita Berber und Danilo Kiš.

 

Berühmtheiten dieser Art werden Teil einer ländlichen Welt, in der die Kamillen gekehrt werden und Perlhühner in den Bäumen sitzen. Tolnai ist ein Dichter, der mit opulenten Bildern und Emotionen nicht spart. Großteils in Ich-Form beschreibt er fühl-und riechbar ein buntes Leben von Mensch und Tier in den Dörfern an der Theiß und in der Puszta. Alltägliche Ereignisse werden zu Sinnbildern, zu komischen, skurrilen Fantasien, deren lautmalerischen Ton man nur ahnen kann, wenn man zum ungarischen Original der zweisprachigen Ausgabe von „Göttlicher Gestank“ hinüber lugt. Hierin sind Ausschnitte seines poetischen Werkes aus verschiedenen Epochen versammelt.


Der 1940 geborene Autor ungarischer Abstammung lebt in der serbischen Kleinstadt Palics nahe Subotica an der serbisch-ungarischen Grenze. Palics (auf Serbisch Palić), das zur Zeit der österreichischen Monarchie als Kurort galt und in seiner Architektur an Baden bei Wien erinnert, ist von der jahrhundertelangen Multiethnizität Suboticas (ungarisch Szabadka, deutsch Maria-Theresiopel) geprägt. Etwas davon spiegelt das Schreiben Tolnais wider – die große weite Welt findet sich für ihn wie selbstverständlich hier zwischen den Steinen der Häuser und auf den erdigen Landstraßen. Der Autor ist eine wichtige Identifikationsfigur für die in Serbien lebenden Ungarn, seine Literatur eine Erinnerung an das alte Jugoslawien. Die politischen Veränderungen, die diesen Landstrich an der Grenze niemals verschont haben, betrachtet er mit dem Freigeist des gelernten „Dorfnarren“. Mehr als 30 Bücher hat er in allen Sparten der Literatur von Prosa über Lyrik bis hin zu Theater und Hörspiel veröffentlicht.

 

Erst zwei schmale Erzählbände liegen von Ottó Tolnai auf Deutsch vor, seit 2009 eine Auswahl seiner Gedichte. Das Nachwort der wunderbaren Übersetzerin Zsuzsanna Gahse in „Göttlicher Gestank“ bringt Erhellung in die Ursprünge von Tolnais Gedankenwelt und dessen melodiösen Sprechgesang, der Gott und der Natur immer nahe ist.  Ilma Rakusa rückte Ottó Tolnai in einer Rezension in der NZZ in die Nähe von Herta Müller und Lajos Parti Nagy preist ihn als einen nahen Verwandten von Danilo Kiš und Bohumil Hrabal. Mit solchen Referenzen ausgestattet, mag es mehr als verwundern, dass diesem Orpheus der Weg in den Westen noch nicht mit einem roten Teppich ausgelegt wurde.


Das folgende Gespräch mit dem Autor führte Beatrice Simonsen im November 2010. Übersetzt wurde es von Dóra Károlyi.

 

Ilma Rakusa hat Sie anlässlich der ersten Herausgabe Ihrer Erzählungen auf Deutsch 2002 „Ich kritzelte das Akazienwäldchen in mein Heft“ mit Herta Müller verglichen. In diesem Band gibt es eine Geschichte, in der die Rede von einem Paar ist, das in Russland durch die Gefangenschaft getrennt wird. Handelt es sich bei Ihnen um persönliche Familiengeschichte oder sind das Geschichten aus  der Vojvodina?

 

In der Erzählung „Brillant“ kommt tatsächlich eine Frau vor, die selbst in Gefangenschaft ist und ihren Mann, der sich in einem sibirischen Lager befindet, besuchen darf. Das ist eine wahre Geschichte, aber nicht konkret aus meiner Familie, obwohl es in unserer Familie, wie in fast jeder Familie in der Vojvodina jemanden oder mehrere Familienmitglieder gibt, die irgendwo in Gefangenschaft waren. Die Geschichte des Dokuments, von der meine Erzählung stammt, ist aber interessant: Ich war in der Vojvodina bei einer Freundin, die dort in einem Verlag tätig war. Sie wollte das Land verlassen und ich saß bei ihr im Büro und sah ihr zu, wie sie ihren Schreibtisch leerte. Und da gab es einen Papierkorb, wo sie alles, was sie nicht mehr brauchte, hineinwarf. Ich sah, dass sie ein großes handgeschriebenes Heft in den Papierkorb geschmissen hatte, es sah wie ein wirkliches Dokument aus und ich habe es wieder herausgenommen und in meine Tasche gesteckt. Es waren die Memoiren eines Friseurs aus der Vojvodina, der als Linker, als Kommunist in Sibirien in Gefangenschaft war. Ich las das ganz verblüfft, das war eine unglaubliche Geschichte, so dass das irgendwie schicksalshaft war, dass ich das gefunden und gerettet habe.


In derselben Erzählung kommen auch die Spargelstecherinnen vor. Vor zehn oder fünfzehn Jahren arbeitete ich als Spargelstecher in der Nähe von Heidelberg und habe dort die Bekanntschaft mit Frauen gemacht, die auch aus der Vojvodina kamen und dort arbeiteten. Es war eine ganz ganz schwere Arbeit, auch wenn sie sicherlich sehr gut bezahlt war. Es war interessant, diese Frauen kennenzulernen, zu beobachten, wie diese Frauen  –  von der  konkreten Arbeitssituation losgelöst – mir fast mythisch erschienen. Es handelte sich um eine sehr harte Arbeit, es gab sogar Frauen, die aufgrund des geforderten strengen Arbeitsablaufes starben. Und dann war es kaum zu fassen, was diese Frauen für das so unglaublich hart verdiente Geld gekauft haben: Kerzen für den Friedhof zu Hause und Regenschirme! Das, was sie nun davon hatten, stand in einer sehr großen Diskrepanz zu der schweren Arbeit.

Das Stück "Batschka Balkan" wurde 2010 nach dem Buch "Ich kritzelte das Akazienwäldchen in mein Heft" in Wien aufgeführt
Das Stück "Batschka Balkan" wurde 2010 nach dem Buch "Ich kritzelte das Akazienwäldchen in mein Heft" in Wien aufgeführt

Ich habe Glück gehabt mit dem Buch [Anm.: Ich kritzelte das Akazienwäldchen in mein Heft]. Es ist in einer sehr schönen bibliophilen Ausgabe schon in einer zweiten Auflage erschienen und es scheint, dass das Buch seinen Weg zu den Lesern gefunden hat. In dem neuen Gedichtband [Anm.: Göttlicher Gestank] kommen auch eigene Erlebnisse vor: Als ich das erste Mal in meinem Leben auf Deutsch vorlesen musste, in einem Radiostudio, hatte ich den Eindruck, dass ich in ein Glas hineinbeiße und Blut aus meinem Mund fließt. Als ich ein Kind war, habe ich zuhause in der Dorfkneipe einmal einen Mann gesehen, der Zirkusmitglied war und der tatsächlich Gläser gegessen und dann eine Fahrradkette geschluckt hat. Mein Gedicht [Das Blut quillt mir aus dem Mund] endet damit, dass ich, wenn ich ein ganz alter Mann bin, von Dorf zu Dorf spazieren und Gläser essen werde. Ich war lange in einer sehr schwierigen Situation mit der deutschen Sprache, sie war irgendwie zu hart für mich, aber dann habe ich das Wort „Ameise“ gelesen und das war der Durchbruch. Das war weich im Klang und damit kam ich der ganzen Sprache näher. Das habe ich gleich meiner Freundin, der Übersetzerin Zsuzsanna Gahse, geschrieben  –  ich wollte sie fragen, was das für ein Wort ist, woher es kommt, ich dachte, es wäre ein französisches Wort oder französischer Abstammung  –  und sie schrieb gleich einen ganzen Essay darüber.

 

Haben Sie denn Deutsch in der Schule gelernt?

 

[Die Antwort kommt zweisprachig]: Igen, ja.

 

Musste man oder konnte man Deutsch lernen?

 

Von 1945 bis 1948 musste man Russisch lernen, aber dann erfolgte der Bruch zwischen Tito und der Sowjetunion und danach musste man nicht mehr Russisch lernen, aber man konnte eben Deutsch lernen.

 

Wie ist das heute mit der berühmten regionalen Vielsprachigkeit?

 

Natürlich gibt es noch die Vielsprachigkeit, obwohl es jetzt mehr Grenzen gibt als vorher, aus Jugoslawien sind ja mehrere kleine Staaten geworden. Ich fühle mich in diesem Kontext am besten. Ich brauche es, dass so viele Sprachen und Kulturen um mich sind. Ich reise oft nach Dalmatien oder Slowenien oder Montenegro, für mich ist das Ganze irgendwie zusammengeblieben. Cioran sagte einmal, er könnte nie in einem Land leben, wo nur eine Sprache herrscht. Er brauchte auch die Vielsprachigkeit, das Abwechslungsreiche.

 

Da Sie ungarischer Abstammung sind, schreiben Sie auch auf Ungarisch. Sie möchten aber nicht in Ungarn leben?

 

Ich habe derzeit die serbisch-ungarische Doppelstaatsbürgerschaft. Nein, ich möchte dort bleiben, wo ich lebe. Meine Tochter lebt in Ungarn und ich besuche sie natürlich oft, aber das ist genug, weil ich mich nur in der Vojvodina zuhause fühle. Es gibt im Ungarischen einen Ausdruck, der heißt: „verliebte Geographie“. Ich bin auch verliebt in die Vojvodina, in das Land. Allerdings sehe ich das nicht so eng, es gehört ein bisschen Venedig dazu, es gehört ein bisschen Wien dazu und Griechenland und so fort, dieser breite Horizont, das ist mein Land.

 

Wo ist hauptsächlich Ihre Leserschaft, in Ungarn oder in Serbien?

 

Es sind auch einige Bücher von mir auf Slowenisch und auf Serbisch übersetzt erschienen, aber ich bin ein ungarischer Dichter oder Schriftsteller.

 

Terézia Mora sagte mir, ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen, weil Sie für die ungarische Literatur eine wichtige Persönlichkeit sind. Sind Sie vielleicht auch ein Symbol für all jene, die nicht mehr in ihrer Heimat Ungarn leben?

 

Wenn ich zuhause bin, bin ich offen für die Welt und erzähle darüber, wie groß die Welt ist und wie offen ich für die Welt bin, aber wenn ich außerhalb von Serbien oder von zuhause bin, dann erzähle ich von meiner Heimat, dann bin ich ein „Lokalautor“. Oft mache ich das so mit meinen Helden aus den Gedichten oder Novellen, ich beschreibe ganz genau den sozialen Hintergrund ihres Zuhause und dann platziere ich sie irgendwohin, nach Wien oder Venedig. Aber eigentlich, was mir wichtig im Hintergrund ist, ist immer Dalmatien, das ist wie eine große Leinwand dahinter. Die Adria ist mir überhaupt sehr wichtig. Ich beschäftige mich sehr oft mit dem Meer, geographisch und chemisch, von vielen Gesichtspunkten aus. Ungarn hat kein Meer und jetzt hat auch Serbien kein Meer – Jugoslawien hatte ein Meer. Einmal, als ich in Amerika war, wurde ich gefragt, inwiefern ich mich von den anderen Autoren unterscheide und da habe ich gesagt: „Ich habe ein Meer.“ Zuhause gab das dann einen großen Wirbel (lacht).

 

 

Ottó Tolnai: Göttlicher Gestank. Gedichte. Aus dem Ungarischen von Zsuzsanna Gahse. Wien: Edition Korrespondenzen, 2009