Was können Sie uns zum Literaturbetrieb in Serbien sagen? Denken Sie, es gibt eine besonders aktive Literaturszene?
Obwohl ich bis jetzt noch nie über eine Ganzheit dieser Szene nachgedacht habe, werde ich versuchen zu antworten. Wie überall in den ehemaligen Ostblockländern, hat die Literatur nach dem Fall der Mauer generell, und so auch in Serbien, tendenziell an Bedeutung verloren. Neben diesem Verlust an gesellschaftlicher Bedeutung gibt es in Serbien noch einen anderen Grund für dieses Phänomen, nämlich den Krieg in den 90ern. Sowohl der Fall der Mauer als auch der Krieg waren Einflüsse, die diesen Effekt, dass Literatur irrelevant beziehungsweise weniger wichtig wurde, noch intensiviert (weil eben andere Dinge wichtiger waren, zu der Zeit). Trotzdem hat Literatur, wie es auch Angela Richter im Vorwort ihrer kürzlich erschienenen Anthologie („Die Unzerstörbarkeit des Schreibens“) sagt, überlebt und es ist gut, wenn man auch die negativen Aspekte einer Zeitspanne an der Literatur ablesen kann. Konkret zur Literaturszene könnte ich grob bzw. rein mechanisch drei Hauptstränge ausmachen:
Die erste Gruppe, die man als nationalpatriotische bezeichnen könnte, bildet den Mainstream. Sie hat sich auf den ihrer Meinung nach wichtigsten Aspekt von Kultur, auf Literatur als Träger nationaler Identität gestürzt, und treibt dies als ihr Projekt voran. Die zweite Gruppe versteht sich als Widerstand gegen die erste Gruppe und ist darauf fokussiert, etwas Universalistisches in der Literatur zu finden, sie versteht die gesamte Welt als eine Kultur und will diese als Gesamtes analysieren. Die dritte Gruppe besteht aus jenen AutorInnen, die der ersten und zweiten Gruppe reserviert entgegentreten und versuchen, einen Freiheits- bzw. Unabhängigkeitsbegriff zu pflegen, indem sie sagen, Kultur braucht gar keinen universalen Anspruch, ihre Funktion und Beschaffeneit muss immer neu definiert werden. An der zweiten Gruppe kritisiert sie, es sei auch schon eine Einengung, sich nur als Opposition zur ersten Gruppe zu definieren.
Im Vorwort zu der Anthologie „Der Engel und der rote Hund“ ist von Literaturpreise n, serbischen Medien und dem Kulturestablishment die Rede. Was haben Sie zu diesem Problemfeld zu sagen?
Die Situation ist paradox: Einerseits werden 300 Preise in Serbien vergeben, wenn man alle zusammenzählt, wird fast jeden Tag ein Preis vergeben. In diesem Sinne bin ich mit Angela Richter einer Meinung, dass man sich vom Establishment kritisch distanzieren sollte, das z.B. genau in diesen Überfluss an seltsamen Preisen seine Macht zu formieren versucht. Es gibt so viele Preise, aber in Wirklichkeit bedeuten sie sehr wenig, somit geht Qualität durch Quantität verloren. Im Grunde kann jeder und jede AutorIn einmal einen Preis bekommen, aber von jenen Preisen, die der Rezeption eines Autors etwas bringen würden, gibt es nur sehr wenige, etwa zehn. Für Prosa oder Romane gibt es zum Beispiel renommierte Preise, wie den „NIN-Preis“ oder den „Meša-Selimović-Preis“.
Zur Politik dieser Preisvergaben: Es gibt ungefähr 20 Leute, die jeweils eine sehr geschlossene Jury bilden, diese Preisvergaben also dominieren. Vor allem jungen Talenten oder neuen Stimmen begegnen sie eher verschlossen. Es gibt allerdings immer auch Ausnahmen, denn keine Literaturszene kann sich ganz verschließen, und so passierte es auch, dass ein Autor wie Vladimir Arsenijević 1995 den nin-Preis bekommen hat, was ein kleines Wunder war, denn die Zusammensetzung der Jury war damals, nach Ende des Bosnienkrieges, nationalpatriotisch, und man entschied doch, einem jungen, noch unbekannten Autor und seinem kritischen Kriegsroman den Preis zu verleihen. „Cloaca Maxima“ war sein erstes Buch, das er mit 29 Jahre geschrieben hat. Es handelt sich um einen rebellischen Text und es war damals fast undenkbar im konservativen Serbien, dass ein Autor mit einem Buch wie diesem einen etablierten Preis kriegt.
Denken Sie, dass die politische Situation die Literatur beeinflusst? Wenn ja, inwiefern? Gibt es überhaupt so etwas wie eine gute oder schlechte Zeit für die Literatur?
Poetik ist Politik, sie ist also immer mit Politik verbunden. Selbst wenn es nicht explizit um Politik geht, ist schon das nicht-politische Schreiben ein politischer Akt, der Gründe hat. In diesem Sinne kann nicht davon gesprochen werden, dass Literatur einen Schaden davonträgt, wenn Politik eine Rolle spielt oder politisiert ist. In der serbischen Literatur hat die Politik sogar dazu beigetragen, dass die Literatur spannender und interessanter wurde. Ich bin der Meinung, dass es darauf ankommt, wie ein Autor mit dem Thema Politik umgeht und was er aus dieser Verbindung macht.
Igor Marojević hat den griffigen Satz geschrieben: „Serbien ist kein guter Ort zum Leben, aber ein guter Ort zum Schreiben.“ Was ist Ihre Meinung dazu?
Ich stimme mit dieser Aussage überein, muss aber hinzufügen: Dieser Spruch ist leider richtig. Ich würde es bevorzugen, in einem uninteressanten Land zu leben.
Haben Sie den Eindruck, dass die serbische Literatur den Jugoslawienkrieg als dominantes Thema wählte? Wie würden Sie die Beziehungzwischen universalen Themen und der serbischen Realität beschreiben?
Ich glaube nicht, dass der Krieg vordergründig und konkret zum Hauptthema in der serbischen Literatur wurde, aber er spielt immer hintergründig eine Rolle. Er dominiert nicht unbedingt als Motiv,
aber er beeinflusste die Literatur natürlich stark, spielt oft als Hintergrundhandlung eine Rolle. In diesem Sinne ist die Literaturszene auf verschiedene Weise stark vom Krieg dominiert.
Wie haben Sie den Krieg und die Nachkriegszeit in Serbien persönlich erlebt?
Als der Krieg begann, war ich 17, deswegen habe ich die Situation mehr emotional als intellektuell erlebt. Ich war zu jung, um Jugoslawien wirklich zu erleben, und ich erlebte den Krieg
mehr auf der menschlichen Ebene, also wie schrecklich es ist, dass sich Menschen so etwas gegenseitig antun können. In diesem Sinne war ich früher als Antikriegs-Aktivist tätig, was aber mit
zunehmendem Alter immer mehr abgenommen hat. Die Proteste gegen Milošević, an denen ich teilgenommen habe, waren einerseits gegen ihn selbst gerichtet, also gegen das Regime, aber auch gegen die
Kriege, die im Namen Serbiens geführt wurden. Als Beispiel einer zunehmenden Distanzierung von meinem jugendlich-naiven Aktivismus oder als Zeichen meines Alterns kann ich zum Beispiel Folgendes
erzählen: Als Milošević 2006 starb, gab es karnevaleske Festzüge, an denen ich teilgenommen habe, wir feierten spontan seinen Tod. Später wurde mir aber bewusst, dass es eigentlich nicht in
Ordnung ist, den Tod eines Menschen, egal welchen, in dieser Weise zu feiern, gerade weil er die vorhergehenden Tode der anderen nicht ausgleicht.
Da wir keinen guten Einblick in Ihre nicht ins Deutsche übersetzten Werke haben: können Sie uns dazu etwas erzählen?
Die zwei theoretischen Bücher, die ich bislang publiziert habe, beschäftigen sich nicht mit dem Krieg. Ich beschäftige mich mit der Frage der Kurzgeschichte, hier mit Texten, die 1988, also noch
vor dem Krieg, geschrieben worden sind, dazu veröffentlichte ich das Buch „Die nackte Geschichte“. Das zweite Buch, meine Dissertation, heißt „Die Theorie des Lachens“ und handelt von
universelleren Dingen, wie dem „Karneval“ [nach Barthes] in der serbischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In den „Sarajevoer“-Heften, in denen ich wissenschaftliche Artikel schrieb, beschäftigte
ich mich mit der Gegenwartsliteratur. Diese Beschäftigung wird in einem Buch münden, das sich mit Gegenwartsliteratur und postkolonialen Themen beschäftigen wird, zum Beispiel mit der Frage, wie
Literatur und Kultur mit den literarischen Weltströmungen im Zusammenhang stehen, wie viel serbische Literatur etwa durch diese globalen Kontexte verloren oder gewonnen hat.
Das Interview wurde im November 2011 auf Englisch und Deutsch geführt, gedolmetscht von Elena Messner, durchgeführt von Maria-Elena Etzelt und Delara Najfar.